Tödliche Täuschung
aber eher auf eine geschwisterliche Art denn als Verehrer, und dass seine Gefühle falsch gedeutet wurden… natürlich mit der besten Absicht und in aller Unschuld?«
»Möglicherweise, wenn es sich um einen Mann unseres Alters gehandelt hätte, Sir Oliver«, sagte Lambert trocken. »Obwohl ich das ebenfalls bezweifeln möchte. Und ein Mann in Melvilles Alter empfindet normalerweise einer hübschen und freundlichen jungen Frau gegenüber nicht gerade geschwisterlich.«
Im Raum war verschiedentlich leises Getuschel zu hören, es klang fast wie das Rascheln von Blättern. Rathbone hatte Mühe, die Fassung zu wahren. Es gefiel ihm nicht, dass Lambert ihn seiner eigenen Altersklasse zuordnete, und es überraschte ihn selbst, wie sehr ihn dies kränkte. Lambert musste mindestens fünfzig sein.
»Es gibt viele jungen Damen, die ich bewundere, deren Gesellschaft ich als angenehm empfinde«, bemerkte er ziemlich steif, »aber ich habe nicht den Wunsch, sie zu heiraten.«
Lambert schwieg.
Rathbone blieb nichts anderes übrig, als weiterzusprechen. Er tat Melvilles Sache damit keinen Gefallen.
»Also hat Mr. Melville Sie nicht um die Hand Ihrer Tochter gebeten, und doch haben Sie alle angenommen, dass er sie heiraten wolle, und es wurden Vorkehrungen getroffen, Anzeigen aufgegeben und so weiter. Von wem, Sir?«
»Von meiner Frau und mir selbst natürlich. Wir sind die Brauteltern.« Lambert sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er hatte ein sehr breites, eher grobes Gesicht. »Das ist so üblich!«
»Das weiß ich«, räumte Rathbone ein. »Ich möchte nur klarstellen, dass Mr. Melville an diesen Vorbereitungen keinen Anteil hatte. Das alles konnte in die Wege geleitet werden, ohne dass ihm bewusst geworden ist, wie ernst man seine Beziehung zu Miss Lambert nahm.«
»Nur wenn er ein kompletter Narr war!«, schnaubte Lambert.
»Vielleicht war er das ja.« Rathbone lächelte. »Er wäre nicht der erste junge Mann, der sich im Umgang mit einer jungen Dame zum Narren gemacht hätte.«
Seine Worte lösten tosendes Gelächter auf der Zuschauergalerie aus, und selbst der Richter konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Will mein gelehrter Freund damit sagen, dass sein Mandant ein Narr ist, Mylord?«, erkundigte sich Sacheverall.
»Ich glaube, genau das habe ich gerade getan«, gestand Rathbone ein. »Ein Narr, aber kein Schurke, Mylord.«
Die leuchtend blauen Augen des Richters waren sehr groß , sehr unschuldsvoll. Das Licht fiel auf seine kahlen Schädel und ließ den Kranz seines weißen Haares wie einen Heiligenschein aussehen.
»Eine ungewöhnliche Art der Verteidigung, Sir Oliver, aber nicht einzigartig. Ich hoffe, Ihr Mandant wird es Ihnen danken, falls Sie Erfolg haben sollten.«
Rathbone lächelte kläglich. Er dachte das Gleiche. Schließlich wandte er sich wieder Lambert zu.
»Sie sagen, Sir, dass der Bruch des Verlöbnisses ohne jede Vorwarnung erfolgt sei. Heißt das, dass diese Sache nur Sie überrascht hat, Mr. Lambert, oder auch alle anderen?«
»Wie bitte?« Lambert sah ihn verwirrt an.
»Ist es nicht möglich, dass Mr. Melville, als ihm klar wurde, wie weit die Vorbereitungen gediehen waren, mit Miss Lambert gesprochen hat? Dass er versucht hat, ihr zu erklären, dass die Dinge ihm aus der Hand geglitten sind? Könnte es sein, dass Ihre Tochter Sie davon nicht unterrichtet hat? Vielleicht hat sie nicht geglaubt, dass er es ernst meinte. Oder sie dachte, sein Verhalten sei lediglich einer Nervosität zuzuschreiben, die mit der Zeit vergehen würde?«
»Nun…«
»Ist das möglich oder nicht?«
»Möglich, ja«, räumte Lambert ein. »Aber ich glaube es nicht.«
»Natürlich nicht«, nickte Rathbone. »Vielen Dank. Ich habe keine weiteren Fragen an Sie.«
Sacheverall hatte nicht die Absicht, das Thema weiterzuverfolgen. Seine Position war sehr stark, und er wusste es.
Rathbone überlegte sich, warum er Lambert nicht nach dem Schaden gefragt hatte, den der Ruf seiner Tochter erlitten haben musste, und warum er die Sache vor Gericht brachte, statt sie halbwegs privat zu erledigen. Das war ein Versäumnis, das ihm selbst nicht passiert wäre.
Die Antwort auf diese Frage kam jedoch umgehend.
Sacheverall, der höchst selbstzufrieden aussah, rief Delphine Lambert in den Zeugenstand.
Sie nahm ihren Platz mit sichtbarer Bekümmerung, aber mit einem Höchstmaß an Würde ein. Sie war eine ziemlich kleine Frau, hielt sich aber so bemerkenswert gerade, dass sie etwas Königliches an sich
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