Tödliche Täuschung
muss ziemlich schlecht gehen, wenn Sie sich auf dieses Niveau herablassen!«
Es war Nachmittag, als Monk endlich in Rathbones Wohnung erschien und ihm ein Stück Papier überreichte, auf dem eine Adresse und der Name Gabriel Sheldon standen.
Rathbone warf einen Blick darauf. »Vielen Dank«, sagte er schlicht. Er wusste nicht, was er noch hätte hinzufügen sollen. Es war eine seltsam unnatürliche Situation. Rathbone wusste viel mehr über Monk als irgendjemand sonst, mit Ausnahme von Hester und vielleicht Callandra Daviot und John Evan. John Evan war der Sergeant, der mit Monk zusammengearbeitet hatte, bevor dieser nach einem heftigen Streit mit seinem Vorgesetzten den Polizeidienst quittierte. Aber Evan hatte ihn seither nur in unregelmäßigen Abständen gesehen, während Rathbone alle paar Monate mit ihm zu tun hatte. Sie hatten eine Menge zusammen erlebt und wussten sehr gut, was der andere empfand.
Rathbone war bekannt, dass Monk bis auf die letzten vier Jahre keine Erinnerung mehr an seine Vergangenheit hatte. Als er ihn kennen lernte, war Monk vierzig Jahre alt gewesen, ein Mann, den er nicht immer mochte, den er bisweilen verachtete, ja sogar fürchtete. Rathbone hatte mit angesehen, wie er um die Wiedererlangung seines Gedächtnisses kämpfte, welchen Mut es ihn kostete, sich mit seinem früheren Ich auseinander zu setzen.
Rathbone bewunderte ihn dafür. Ihm war es einerlei, dass sie aus so unterschiedlichen Verhältnissen kamen. Rathbone hatte man Privilegien, Eleganz und höhere Bildung zusammen mit gesellschaftlichem Status und finanziellen Mitteln auf einem silbernen Tablett serviert. Monk hingegen war der Sohn eines Fischers aus dem Nordosten, von der schottischen Grenze. Er hatte seine Bildung dem Wohlwollen des Gemeindepfarrers zu verdanken. Der Mann hatte seinen Intellekt und seine Willenskraft erkannt und war bereit gewesen, ihn unentgeltlich zu unterrichten. Später war Monk nach London gegangen, um dort sein Glück zu versuchen, und hatte dort schon bald die Unterstützung eines wohlhabenden Mannes gefunden, der ihn ins Bankwesen einführte. Dann war er Opfer einer ungerechtfertigten Anklage geworden und plötzlich ruiniert gewesen.
Daraufhin hatte sich Monk voller Zorn und dem Gedanken, das Unrecht zu bekämpfen, zur Polizei gemeldet.
Dies alles unterschied sich so sehr von Rathbones Lebensweg, der in Cambridge Jurisprudenz studiert und mit Hilfe seines brillanten Verstandes und guter Beziehungen mühelos auf der Karriereleiter eine Stufe nach der anderen erklommen hatte.
Einzig in seiner Zielstrebigkeit und seinem Ehrgeiz ähnelte er Monk, vielleicht noch in seiner Liebe zu den schönen Dingen des Lebens, zu Eleganz und gutem Geschmack. Für Rathbone war es vollkommen natürlich, sich tadellos zu kleiden. In Aussehen und Auftreten war er der Gentleman, als der er zur Welt gekommen war.
Für Monk waren diese Dinge eine Extravaganz, die er mit dem Verzicht auf anderes bezahlte. Rathbone konnte ihn nicht der Eitelkeit bezichtigen, aber manch ein anderer hätte es getan, vielleicht sogar Hester selbst und ganz gewiss Callandra Daviot. Rathbone war nie im Leben einer Frau begegnet, die sich weniger um ihr Aussehen scherte als Callandra. Aber trotz Monks natürlicher Eleganz und der großen Sorgfalt, die er auf sein Äußeres verwandte, würde er niemals Rathbones Selbstsicherheit erlangen, denn das wurde einem in die Wiege gelegt, man konnte es sich später nicht mehr erwerben.
»Vielen Dank«, wiederholte er. »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, werde ich Hester unverzüglich aufsuchen. Ich habe keine Zeit zu verlieren.«
Monk nickte lächelnd. »Keine Zeit, aber alles andere« , bemerkte er trocken. »Lassen Sie es mich wissen, wenn ich Ihnen bei Ihrem Fall behilflich sein kann, aber für mich klingt die Sache nicht sehr Erfolg versprechend. Wie ist sie denn, diese verschmähte Dame?«
»Jung, hübsch, besonnen, intelligent genug, um interessant zu sein, aber nicht so intelligent, dass es einen Mann einschüchtern könnte. Und obendrein ist sie eine Erbin«, erwiderte Rathbone, während er in seinen Mantel schlüpfte und Monk, befriedigt über dessen Erstaunen, die Tür aufhielt. »Sie hat außerdem einen makellosen Ruf«, fügte er hinzu, »sie trinkt nicht, ist weder extravagant noch scharfzüngig, noch klatschsüchtig. Haben Sie einen Hansom draußen stehen, oder wollen wir uns eine Droschke teilen?«
»Meine Droschke wartet«, antwortete Monk.
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