Tödliche Täuschung
deine Unabhängigkeit zu verzichten? Ist es nicht möglich, dass du all diese Gefühle auf deinen jungen Mandanten überträgst?«
»Mir widerstrebt es keineswegs, mich zu binden!«, verteidigte Oliver sich und dachte mit einem Gefühl des Bedauerns an den Abend vor nicht allzu langer Zeit, als er Hester Latterly beinahe gebeten hätte, seine Frau zu werden. Er hätte es auch getan, wäre ihm nicht bewusst gewesen, dass sie ihn zurückweisen würde, und dann hätten sie in Zukunft nicht mehr unbefangen miteinander umgehen können. Eine Freundschaft, die ihnen beiden teuer war, würde ein anderes Gesicht erhalten und ließe sich vielleicht nie wieder zurückgewinnen. Bisweilen war er erleichtert, dass sie ihn am Reden gehindert hatte. Seine persönliche Freiheit war ihm ungemein wichtig, ebenso die Tatsache, dass er tun und lassen könnte, was er wollte, ohne jemandem Rechenschaft ablegen zu müssen, einem anderen wehzutun oder ihn zu kränken. Bisweilen jedoch fühlte er sich auch sehr einsam ohne Hester. Er dachte häufiger an sie, als ihm lieb war, und sie fehlte ihm als Zuhörerin, als ein Mensch, der an ihn glaubte.
Henry nickte nur. Wusste er es? Oder ahnte er es? Hester war ihm außerordentlich zugetan. Oliver hatte sich einige Male schon gefragt, ob seine Zuneigung zu ihr nicht auch zum Teil mit ihrer Wertschätzung für Henry zusammenhing, mit dem Gefühl, dass sie so ganz und gar zu seiner Familie gehören würde. Das war etwas, das William Monk ihr nicht geben konnte! Er hatte gleich nach Ende des Krimkriegs bei einem Kutschenunfall das Gedächtnis verloren, und sein ganzes Leben davor bestand aus Bruchstücken, die er anhand von Beobachtungen und Schlussfolgerungen zusammengefügt hatte, auch wenn das alles heute ein weitaus vollständigeres Bild ergab als noch vor einem Jahr. Aber es existierte in seiner Familie niemand wie Henry Rathbone.
Konnte es das sein? War es nicht Zillah, die unakzeptabel war, sondern jemand anders in ihrer Familie? Barton Lambert? Delphine? Nein, das war höchst unwahrscheinlich. Barton Lambert war Melville ein besserer Freund gewesen, als die meisten Männer es sich von einem Schwiegervater erhoffen konnten. Und Delphine war stolz auf ihre Tochter; sie war ehrgeizig und hatte vielleicht eine übertriebene Neigung, Zillah zu beschützen, aber auch das war nicht weiter ungewöhnlich, man erwartete es förmlich von einer Mutter. Wenn sie Melville heute mit Abneigung begegnete, dann hatte sie allen Grund dazu.
»Es scheint keine Verteidigung zu geben«, sagte er laut.
»Was sagt er selbst denn dazu?«, fragte Henry, nahm die Pfeife aus dem Mund und schlug mit ihrem Kopf kräftig gegen den Kamin. Während er die Pfeife säuberte und Tabak nachfüllte, sah er Oliver forschend an. Er rauchte nur selten wirklich, aber allein das Hantieren mit der Pfeife schien ihm eine gewisse Befriedigung zu verschaffen.
»Das ist es ja gerade«, erwiderte Oliver verzweifelt. »Nichts!
Er sagt nur, dass er ihr nie einen Heiratsantrag gemacht hat und dass er den Gedanken, überhaupt jemanden zu heiraten, nicht ertragen könne. Er beteuert mit großem Nachdruck, nichts Nachteiliges über sie zu wissen, dass das Ehehindernis nicht auf ihrer Seite liege und er darauf baue, dass ich ihn so gut wie nur möglich verteidigen würde.«
»Dann ist da ganz gewiss etwas, das er dir nicht anvertraut« , bemerkte Henry und steckte die Pfeife wieder in den Mund, machte aber immer noch keine Anstalten sie anzuzünden.
»Das weiß ich!«, stimmte Oliver ihm zu. »Aber ich habe keine Ahnung, was es sein könnte. Während der Verhandlung bange ich ständig, dass Sacheverall ihn darauf ansprechen könnte. Ich stelle mir vor, dass er den Grund plötzlich aus dem Hut zieht wie ein Zauberkünstler und sich dann auch der letzte Rest meiner Hoffnungen in Luft auslösen wird.«
»Du sprichst von Wystan Sacheverall?«, fragte Henry und hob die Augenbrauen.
»Ja. Warum?«
Henry zuckte die Achseln. »Ich kannte seinen Vater. Er schien mir in gesellschaftlicher Hinsicht immer äußerst ehrgeizig zu sein, ein Opportunist. Ein hoch gewachsener Mann mit blondem Haar und einem ungewöhnlich großen Mund.«
Oliver lächelte. »Das klingt ganz nach seinem Sohn«, pflichtete er ihm bei. »Aber er ist auch ein sehr tüchtiger Mann. Ich werde nicht den Fehler machen, ihn zu unterschätzen, nur weil er ein Clownsgesicht hat. Ich glaube, dass er ein ungemein ernsthafter Mensch ist.«
»Dann solltest du besser selbst
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