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Tödliche Therapie

Tödliche Therapie

Titel: Tödliche Therapie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Paretzky
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wie ein Chefchirurg den Assistenzarzt.
    Mir sträubten sich die Haare im Nacken.
„Selbstverständlich, Lotty, dein Wunsch ist mir Befehl.“ Ich bremste scharf
vor der Praxis.
    „Bin ich unvernünftig? Ja, vielleicht. Malcolm war
mir sehr wichtig, Vic. Wichtiger als dieses arme Kind und ihr unerträglicher
Mann. Ich will sichergehen, daß die Polizei den Fall nicht unter den Teppich
kehrt oder zu den ungelösten Fällen legt.“
    Ich trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und
versuchte meine Ungeduld zu unterdrücken. „Lotty, das ist wie - wie eine
Choleraepidemie. Du würdest sie auch nicht allein bekämpfen wollen - du
schaltest die Leute vom Gesundheitsamt ein und überläßt die Sache ihnen. Weil
sie über die entsprechenden Mittel verfügen und du nicht. Und der Mord an
Malcolm ist ähnlich. Ich kann ein paar Details überprüfen, aber ich bin nicht
dafür ausgerüstet, um mich durch Hunderte von Fragen durchzuwühlen und
fünfhundert falsche Fährten zu verfolgen. Malcolm ist wirklich und wahrhaftig
ein Fall für die Polizei.“
    Lotty sah mich wütend an. „Um bei deiner Analogie
zu bleiben: Wenn einer meiner Freunde der Cholera zum Opfer zu fallen droht,
würde ich ihn behandeln, auch wenn ich die Epidemie nicht aufhalten kann. Und
das ist es, was ich für Malcolm verlange. Vielleicht kannst du den Fall nicht
lösen, vielleicht ist die Epidemie der Straßenbanden nicht zu stoppen, auch
nicht vom Staat oder von der Polizei. Aber als deine Freundin bitte ich dich
darum für einen Freund.“
    Der Kragen meiner Seidenbluse schnürte mir die Luft
ab. Das Bild des Babys, das nach Luft rang, ging mir durch den Kopf. „In
Ordnung, Lotty. Ich werde mein möglichstes tun. Aber bleib nachts nicht auf, um
darauf zu warten, daß das Fieber sinkt.“
    Kaum hatte sie die Tür zugeschlagen, gab ich Gas,
bog um die Ecke und raste die Irving Park Road hinunter. Zu Beginn des Lake
Shore Drive schnitt ich einen wild hupenden Kombi und beschleunigte wie blöd
angesichts der auf mich zufahrenden Autos. Entrüstetes Hupen und quietschende
Bremsen gaben mir für einen Augenblick das Gefühl höchster Effizienz. Dann kam
mir der Gedanke, daß es von maßloser Dummheit zeugte, meine Frustrationen bei
einer todbringenden Maschine auszuleben. Ich fuhr auf einen der winzigen
Parkplätze, die zum Reifenwechseln dienten, und wartete darauf, daß sich mein
Puls normalisierte.
    Zu meiner Linken lag der See. Die spiegelglatte
Oberfläche leuchtete in Farben, die Monet inspiriert haben würden. Er sah
friedlich und einladend aus. Trotzdem konnte man in seinen eiskalten Tiefen
erbarmungslos ertrinken. Ernüchtert legte ich den Gang ein und fuhr langsam
Richtung Loop.
     
    6   Im Archiv
     
    Ich stellte meinen Wagen in einem Parkhaus
unterhalb der Michigan Avenue ab und ging hinüber zu meinem Büro. In der
Eingangshalle des Pulteney-Gebäudes an der South Wabash stank es wie gewöhnlich
nach Moder und Urin. Es war ein altes Haus aus einer Zeit, als die Leute noch
für die Ewigkeit bauten; in den nichtklimatisierten Fluren und Treppenhäusern
hinter den dicken Mauern war es kühl.
    Zweimal in der Woche funktionierte der Aufzug
nicht, heute natürlich auch nicht. Ich mußte mir zwischen Hühnerknochen und
noch weniger appetitlichem Abfall einen Weg bis zum Treppenhaus bahnen. Dünne
Strümpfe und hochhackige Schuhe sind nicht gerade das richtige für den
vierstöckigen Aufstieg in mein Büro. Ich weiß nicht, warum ich es behalte und
nicht einfach von meiner Wohnung aus arbeite. Ein Büro in einem besseren Haus
kann ich mir nicht leisten, und nur weil es in der Nähe des Finanzzentrums
liegt und ich mich auf Wirtschaftskriminalität spezialisiert habe, ist nicht
Grund genug, mich mit dem Gestank und dem nicht funktionierenden Aufzug
abzufinden. Ich öffnete die Tür und hob die Post auf, die sich in der letzten
Woche auf dem Boden angesammelt hatte. In der Miete inbegriffen war ein
sechzigjähriger „Postjunge“, der die Post in der Eingangshalle aufsammelte und
an die Bewohner verteilte - kein Postbeamter würde jeden Tag die vielen
Treppen rauf und runter steigen.
    Ich schaltete die Klimaanlage ein und rief bei
meinem Auftragsdienst an, Tessa Reynolds wollte mich sprechen. Während ich
ihre Nummer wählte, bemerkte ich, daß die Pflanze vertrocknet war, die ich
gekauft hatte, damit das Zimmer etwas freundlicher aussah.
    „V. I., du weißt, daß Malcolm tot ist?“ Ihre tiefe
Stimme klang angespannt, gepreßt. „Ich - ich möchte,

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