Tödliche Therapie
zitternd nach Luft.
„Sie hatten recht, Warshawski. Die Polizei hätte
früher hier sein sollen.“ Die belegte, leicht amüsierte Stimme gehörte Detective
Rawlings. Er hatte sich neben mich gestellt, ohne daß ich es bemerkt hatte.
„Was wollen Sie jetzt unternehmen?“ fragte ich
verbittert. „Ein paar Steinewerfer, ein paar Ruhestörer, niedrige Kaution,
keine Strafverfolgung?“
„Wahrscheinlich. Obwohl wir ein paar festgenommen
haben wegen tätlichen Angriffs auf einen Polizisten. Ein Mann wurde verletzt.“
„Endlich mal eine gute Nachricht. Schade, daß nicht
mehr getroffen wurden - vielleicht gäbe es dann ein paar wirkliche Verhaftungen
und nicht nur ein paar Klapse auf die Finger.“
„Ärgern Sie sich nicht, Warshawski. Es ist die alte
Geschichte - Sie wissen, was in dieser Stadt unter Gerechtigkeit verstanden
wird.“
„O ja. Das weiß ich. Ich hoffe inständig, daß Sie
mir jetzt nicht noch sagen wollen, Sie hätten Sergio verhaftet. Im Augenblick
ist mir nämlich nicht nach Kooperation zumute.“
Zwei Mannschaftswagen bremsten scharf direkt vor
uns. Noch bevor sie standen, stürmten mehrere Dutzend behelmter Polizisten
heraus und rannten in die Praxis, die Schlagstöcke in der Hand. Kurz danach
kamen die ersten wieder heraus und führten Demonstranten in Handschellen ab.
Die Verhafteten, alles Weiße, überwiegend junge Männer und ältere Frauen,
schienen angesichts der Wendung, die die Ereignisse nahmen, etwas verwirrt.
Aber als die Fernsehleute auftauchten, fingen sie erneut an zu grölen und
machten das Siegeszeichen.
Ich ließ Rawlings stehen und ging auf einen der
Kameramänner zu. „Machen Sie ein paar gute Aufnahmen von der Praxis. Hierher
kommen seit sieben Jahren mittellose Frauen und Kinder und werden von einer
der besten Ärztinnen Chicagos gratis behandelt. Ihre Zuschauer sollten
erfahren, daß diese rechtschaffenen Bürger eines der wichtigen
Gesundheitszentren für die Armen von Chicago zerstört haben.“
Jemand hielt mir ein Mikrophon ins Gesicht. Es war
Mary Sherrod von Kanal 13.
„Arbeiten Sie hier?“
„Ich bin einer von Dr. Herschels Anwälten. Ich kam
zufällig heute morgen vorbei und fand die Praxis belagert vor. Wir haben unser
Möglichstes versucht, um sie nicht schließen zu müssen und die armen Frauen
und Kinder, die auf sie angewiesen sind, medizinisch zu versorgen. Eine
schwangere Frau, die dringend ärztliche Hilfe benötigte, wurde von der Meute
angegriffen. Sie konnte fliehen, ohne daß sie oder ihr ungeborenes Kind zu
Schaden kam. Bevor Sie dieses Chaos ihren Zuschauern auf eine Art und Weise präsentieren,
die den Schluß zuläßt, daß hier zugunsten ungeborenen Lebens eingeschritten
wurde, richten Sie bitte Ihr Augenmerk auf den entstandenen Schaden. Zeigen
Sie, was wirklich passiert ist.“ Angesichts der Unmöglichkeit, mit meiner
dünnen Stimme dreihundert wahnsinnige Fanatiker niederzuschreien, hörte ich auf
zu sprechen und drehte mich auf dem Absatz um.
Die Menge zerstreute sich, die Polizisten zogen ab.
Abgesehen von den eingeschlagenen Fenstern und dem Schlachtfeld um die Praxis
herum, konnte man meinen, es wäre nichts geschehen. Auf der Straße lagen
Glasscherben, Ziegelsteine, Flugblätter, Steine, leere Dosen und Tüten,
Schokoladenpapier und McDonalds Schachteln. Die Stadt würde für die Aufräumarbeiten
aufkommen - sie würde Leute schicken müssen, die den Schutt beseitigten.
Vielleicht. In dieser Gegend würde es jedenfalls eine Weile dauern.
Rawlings war verschwunden, aber ein paar Polizisten
hatten vor der Praxis Stellung bezogen. Ich kam mir auffällig und verletzlich
vor und wollte gerade losgehen, um jemand anzurufen, der die Front mit Brettern
vernageln konnte, als Lotty auftauchte. Ihr weißer Kittel war zerrissen und
schmutzig, am rechten Arm hatte sie eine lange Schramme, aber ansonsten war sie
unverletzt.
„Gott sei Dank, daß du noch hier bist, Vic. Ich hab
schon befürchtet, du wärst mit der Meute abtransportiert worden wie dein
heldenhafter Freund Mr. Contreras. Er war am Kopf verletzt, wurde aber so
schnell in eine Grüne Minna verfrachtet, daß ich nichts mehr für ihn tun
konnte. Es war wie 1938. Entsetzlich. Ich kann's nicht fassen.“
Ich nahm sie bei der Hand. „Wo sind Carol und Mrs.
Coltrain?“
„Sie sind entkommen. Ich hab ihnen einen Weg
zwischen den Häusern gezeigt. Arme Mrs. Coltrain, sie versucht so tapfer, sich
mit meinen Vorstellungen über Abtreibung anzufreunden, die nicht die ihren
sind.
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