Tödliche Therapie
in der Lage, so weit vorauszudenken.“
„Soll ich kommen und dich begleiten?“ fragte er
eifrig.
„Danke, nein. Ich weiß nicht, wie lange es dauern
wird, die ganzen Formalitäten zu erledigen. Ich will versuchen, dich morgen
tagsüber zu erreichen. Gibst du mir deine Krankenhausnummer?“
Ich notierte sie und legte auf. Dann zog ich ein
gelbes Baumwollkleid an, das vornehm genug fürs Gericht war, und begann mit
den Telefonaten. Als erstes rief ich das zuständige Revier an, als nächstes das
Bezirksrevier, wo man mich fünf- oder sechsmal weiterverband. Schließlich
erfuhr ich, daß Mr. Contreras in ein Krankenhaus gebracht worden war, damit
seine Platzwunde genäht wurde. Danach sollte er dem Haftrichter vorgeführt
werden. Anschließend rief ich eine alte Freundin an, die bei der Rechtshilfe
arbeitete. Glücklicherweise war sie zu Hause.
„Cleo - hier ist V. I. Warshawski.“
Wir tauschten die Neuigkeiten der letzten zehn
Monate aus - solange hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen, dann
erklärte ich ihr mein Problem.
„Sie werden alle im Revier festgehalten und sollen
später am Abend dem Haftrichter vorgeführt werden. Weißt du, wer heute abend in
der Rechtshilfe Dienst hat? Ich werde als Entlastungszeugin auftreten.“
„Oh, ich hätte mir denken können, daß du etwas mit
den Ausschreitungen bei der Praxis heute nachmittag zu tun hast, Vic. Wie
entsetzlich - ich habe geglaubt, Chicago würde der gewalttätige Flügel dieser
Fanatiker erspart bleiben.“
„Ich auch. Ich hoffe nur, es war nicht das Signal
für einen Angriff auf die Abtreibungskliniken der Stadt. Lotty Herschel ist
ziemlich niedergeschlagen. Für sie war es eine Neuauflage dessen, was sie in
ihrer Kindheit mit den Nazis erlebt hat.“
Cleo versprach, sich zu erkundigen und in ein paar
Minuten zurückzurufen. Das Bad hatte mich etwas erfrischt, aber ich war immer
noch ziemlich groggy. Ich brauchte Proteine und suchte nach ihnen im
Kühlschrank. Seit einer Woche hatte ich nichts mehr eingekauft und fand deswegen
nicht mehr viel Appetitanregendes. Dem Kühlschrank hätte eine Säuberungsaktion
gutgetan, aber heute hatte ich wie immer wichtigeres vor. Ich machte mir
Rühreier mit Zwiebeln, einer halben grünen Paprika und einer von Mr. Contreras'
Tomaten. Das Telefon klingelte, als ich die letzten Bissen hinunterschluckte.
Cleo nannte mir den Namen des Mannes, der heute im Gericht Dienst hatte: Manuel
Diaz. Ich dankte ihr und machte mich auf in Richtung Elfte Straße Ecke State
Street.
Am Abend gibt es in der Gegend am südlichen Ende
des Loop keine Parkplatzprobleme. Tagsüber werden hier in den Lagerhallen
windige Geschäfte abgewickelt, und die altmodischen Cafes sind voll mit den
entsprechenden Geschäftsfreunden. Nachts herrscht nur im Central District
Headquarters Leben; die meisten Besucher kommen nicht im eigenen Auto.
Ich parkte in der Nähe des Gebäudes und ging
hinein. Die Korridore, in denen die Farbe von den Wänden blätterte und die
penetrant nach Desinfektionsmitteln rochen, weckten in mir nostalgische Erinnerungen
an die Besuche, die ich meinem Vater abstattete, der hier bis zu seinem Tod vor
vierzehn Jahren als Wachtmeister arbeitete. Ich fand Manuel Diaz, einen stämmigen
Mexikaner, in einem der Konferenzzimmer neben dem Gerichtssaal. Ich erinnerte
mich nicht an ihn, obwohl er, seinem Alter nach zu urteilen, auch schon zu
meiner Zeit hier gearbeitet haben konnte. Tiefe Linien durchfurchten sein derbes
Gesicht, und seine Backen sahen wegen der vielen Pockennarben aus, als wären
sie mit Sommersprossen übersät. Ich stellte mich vor und erklärte mein
Anliegen.
„Mr. Contreras ist über siebzig. Er war
Maschinenschlosser und hat seinerzeit bei Gewerkschaftskundgebungen mitgemischt.
Und er wollte heute nachmittag eine Neuauflage seiner Jugend erleben. Ich weiß nicht,
wessen sie ihn anklagen wollen. Ich habe gesehen, wie er mit einer Rohrzange
hinter jemand her war, aber er hat auch ganz schön was abgekriegt.“
„Wir kennen die Anklagen noch nicht, aber
wahrscheinlich haben sie ihn wegen Ruhestörung festgenommen“, antwortete Diaz.
„Heute nachmittag wurden achtzig Personen verhaftet. Über die einzelnen Punkte
der Anklage hat man sich vermutlich noch keine großen Gedanken gemacht.“
Wir unterhielten uns eine Weile. Er war schon seit
zwanzig Jahren Pflichtverteidiger, früher im Lake County, jetzt in der Stadt.
Er lebte im Süden Chicagos, und der tägliche Weg nach Norden war ihm
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