Tödliche Versuchung
Überzeugung, dass er gar nicht aus Pakistan kam. Das war eine Lüge. Sein Heimatort musste irgendwo in der Hölle liegen.
»Von einer Zunge hat Mr. Stolle nichts gesagt«, gab Mitchell zu bedenken. »Vielleicht hat er sich das für später aufgehoben.«
»Wo wollen Sie mich festhalten?«, fragte ich Mitchell.
»Hier. Wir sperren Sie in den Waschraum.«
»Was ist mit der Wunde?«
»Was soll schon damit sein?«
»Ich könnte verbluten. Wie wollen Sie mich dann gegen Ranger austauschen?«
Die beiden sahen sich an. Daran hatten sie nicht gedacht. »Das ist sowieso neu für mich«, sagte Mitchell. »Normalerweise schlage ich die Leute einfach zusammen oder bumse sie.«
»Sie sollten sauberes Verbandsmaterial und ein Antiseptikum bereithalten.«
»Das klingt vernünftig«, sagte Mitchell. Er schaute auf die Uhr. »Wir haben nicht viel Zeit. Ich muss meiner Frau den Wagen zurückbringen, damit sie die Kinder von der Schule abholen kann. Ich will nicht, dass sie draußen im Regen warten müssen.«
»In der Broad Street ist eine Apotheke«, sagte Habib. »Da kriegen wir die Sachen vielleicht.«
»Bringen Sie mir bitte noch Schmerztabletten mit«, sagte ich.
Eigentlich wollte ich gar keine Verbände und auch keine Schmerztabletten. Ich wollte Zeit gewinnen. Das will man immer, wenn sich eine Katastrophe anbahnt. Man will Zeit, um sich der Hoffnung hinzugeben, dass das alles nicht wahr ist. Zeit, damit die Katastrophe vorübergeht. Zeit, damit sich herausstellt, dass alles nur ein Versehen war. Zeit, damit Gott dazwischenfunken kann.
»Na gut«, sagte Mitchell. »Gehen Sie in den Waschraum da drüben!«
Es war ein fensterloser Raum, ein Meter zwanzig breit, ein Meter achtzig tief. Eine Toilette, ein Waschbecken. Mehr nicht. An der Tür war ein Vorhängeschloss angebracht. Es sah nicht gerade neu aus, ich durfte also annehmen, dass ich nicht der Erste war, der hier als Gefangener festgehalten wurde. Ich trat in den kleinen Raum, Habib und Mitchell schlössen die Tür und sperrten ab. Ich legte ein Ohr an den Türpfosten. »Weißt du was?«, sagte Mitchell. »Langsam geht mir dieser Job auf die Nerven. Wieso können wir uns für solche Sachen nie mal einen schönen Tag aussuchen? Einmal musste ich einem Kerl eine verpassen, Alvin Marguccie hieß der. Es war so arschkalt draußen, dass mir die Pistole eingefroren ist. Wir mussten ihn mit einer Schaufel totprügeln. Und als wir ein Loch für ihn buddeln wollten, kriegten wir die Hacken keinen Millimeter in die Erde. Es war ein einziger Eisblock.« »Klingt nach Schwerstarbeit«, sagte Habib. »In meiner Heimat haben wir es in der Beziehung besser. Es ist wärmer, und der Boden ist weicher. Meistens brauchen wir gar kein Loch zu graben. Die Pakistani sind ein ziemlich rohes Volk, und wir können unsere Toten einfach in irgendeine Grube werfen.« »Ja, ja. Hier gibt es dafür Flüsse, aber die Leichen steigen an die Wasseroberfläche auf, und das ist dann nicht so schön.« »Ganz recht!«, sagte Habib. »Das habe ich selbst erlebt.« Ich hörte, wie sich die beiden entfernten, wie sich das Tor am anderen Ende des Flurs öffnete und wieder schloss. Ich probierte es zuerst an der Toilettentür. Ich sah mich in dem kleinen Raum um. Ich atmete ein und aus. Ich sah mich noch gründlicher im Raum um. Ich zwang mich zum Nachdenken. Ich kam mir vor wie Puh der Bär, der Bär mit dem kleinen Verstand. Der Raum war hässlich und eng, es gab ein dreckiges Waschbecken und eine dreckige Toilette und einen schmutzigen Linoleumboden. Die Wand gegenüber von dem Waschbecken wies einige Wasserflecken auf, an der Decke gab es eine feuchte Stelle, wahrscheinlich von einem kaputten Abfluss im Stock darüber. Pfusch am Bau, würde ich sagen, keine Seltenheit hier. Ich legte eine Hand an die Wand und spürte, dass sie nachgab.
Es
war eine Bauplatte, und sie war aufgeweicht.
Ich hatte meine Caterpillar-Schuhe an, die mit der starken Profilsohle. Ich stützte mich mit dem Hintern am Waschbecken ab und trat mit den Cats gegen die Bauplatte. Der Fuß ging glatt durch. Ich fing an zu lachen, dann merkte ich, dass ich weinte. Keine Zeit, hysterisch zu werden, sagte ich mir. Nichts wie raus hier.
Ich krallte beide Hände um die Platte und riss einzelne Stücke aus ihr heraus, bis ich eine ziemlich große Öffnung zwischen den Pfosten freigelegt hatte. Dann machte ich mich über die angrenzende Wand her. Nach wenigen Minuten hatte ich beide Wände soweit zerstört, dass ich mich
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