Toedliche Worte
leid, dass ich kein ganz genaues Profil liefern konnte«, sagte Tony und störte damit auf beklemmende Weise ihren Gedankengang.
»Es ist nicht deine Schuld. Deine Arbeit bringt das mit sich, ich weiß es. Du brauchst Daten, die du verwenden kannst, und ein einzelner Fall liefert eben nicht genug Fakten.«
Tony stand auf und ging im Zimmer auf und ab. »Ja, das stimmt. Es ist einer der größten Nachteile dieser Arbeit. Je öfter ein Täter sich auf das Drahtseil hinauswagt und seine Tat preisgibt, desto leichter lässt sich herausbekommen, aus welchen wichtigen Elementen sich seine Verbrechen zusammensetzen. Bei einem einzigen Vorkommnis kann man die Hintergrundgeräusche nicht von der eigentlichen Botschaft unterscheiden. Und das versetzt mich in die Lage eines Außenseiters – ich bin der Einzige, dem es zugute kommt, wenn er wieder zuschlägt. Kein Wunder, dass mich einige deiner Kollegen wie einen Aussätzigen behandeln.«
»Vielleicht schlägt er nicht mehr zu«, sagte Carol, aber sie klang alles andere als überzeugend.
»Carol, das hat er doch schon. Obwohl ich beim Erstellen des Profils von einem Einzelfall ausgegangen bin, geht es doch eigentlich um Nummer fünf.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe die Originalfälle studiert, Tony. Es kann keinen Zweifel an Derek Tylers Schuld geben. Und es gibt keine Hinweise darauf, dass er mit jemandem zusammenarbeitete. Du selbst hast es mir ja gesagt: Bei allen Fällen, in die zwei Mörder als Partner verwickelt sind, gibt es einen hohen Grad gegenseitiger Abhängigkeit und Vertrautheit. Sie sind unzertrennlich. Aber in Derek Tylers Leben gab es keine solche Person. Sam Evans hat es auf die feinsten Details hin untersucht. Tyler war als Kind bei Pflegeeltern. Er lebte allein. Er hatte keine Freundin. Oder einen Lebensgefährten, je nachdem. Er hatte nicht einmal gute Freunde. Was auch bedeutet, es gibt niemanden, dem es wichtig genug wäre, seine Taten nachzuahmen und damit zu versuchen, ihn durch eine Berufungsverhandlung aus dem Knast zu befreien.«
Tony lehnte sich an die Wand. »Ich höre, was du sagst, Carol. Und ich kann dir keinen Trost anbieten. Ich verstehe nicht, was hier los ist. Es gibt keine praktikable Theorie, die nicht alldem vollkommen widerspricht, was ich über die Psychologie von Sexualmorden weiß.«
»Sind dir keine neuen Ideen gekommen?«
Er schüttelte den Kopf. »Mein bester Vorschlag ist das, was ich gleich zu Anfang sagte. Für euren Mörder bedeutet der Gedanke an Vergewaltigung einen Lustgewinn. Und er will die Vergewaltigung weit über die Ausführung selbst hinaus ausweiten. Er ist der absolute Vergewaltiger, er setzt die Zielmarke, an der sich jeder, der nach ihm kommt, messen lassen muss. So sieht er sich. Es geht um Macht und Wut, nicht um einfache sexuelle Befriedigung.«
Carol stieß ein gepresstes Lachen aus. »Als ob Mord aus sexuellen Motiven je einfach wäre.«
Tony machte eine weit ausholende Armbewegung und verschüttete dabei den Sekt, der an seinem Arm herunterrann. Ungeduldig wischte er die Flüssigkeit ab. »Es ist tatsächlich einfach, Carol. Es ist im Grunde immer die Ausführung einer Phantasievorstellung. Wenn man sie entschlüsselt, hat man den Hauptgrund für das Verbrechen. In neunundneunzig von hundert Fällen geht es bei der Phantasievorstellung darum, sein Vergnügen zu haben. Aber hier geht es noch um etwas anderes. Es geht um die Demonstration von absoluter Macht. Und ein Teil davon besteht darin, uns zu manipulieren, unsere Reaktionen und den ganzen Ablauf, den er sich ausgedacht hat, zu steuern.« Plötzlich versank er in Gedanken und hörte auf zu reden. Carol war klar, dass sie ihn jetzt nicht unterbrechen sollte, deshalb trank sie langsam von ihrem Sekt und wartete ab.
»An diesem Profil hat mich die ganze Zeit schon etwas gestört«, sagte er schließlich, stieß sich von der Wand ab und fing wieder an, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Die Typologie der Vergewaltigung wurde vor längerer Zeit, in den siebziger Jahren, von Nicholas Groth aufgestellt und ist im Grunde immer noch die gleiche, obwohl sie natürlich verfeinert wurde. Wenn Sandie Fosters Vergewaltiger sie also nicht ermordet hätte, wäre er ein typisches Beispiel für Machtdemonstration. Er plant alles und benutzt Fesseln, weil das seine Sicherheit erhöht. Von Anfang an will er es mit einem unterwürfigen Opfer zu tun haben. Statt sich irgendeine Person von der Straße zu holen, nahm sich unser Mann eine Prostituierte und
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