Toedliche Worte
ist es nie gekommen. Was tust du also, um deinen Unterhalt zu verdienen? Du hast bestimmt etwas gewählt, das dir Autorität über andere gibt. Die Armee oder die Polizei hätte dir gefallen oder eine Tätigkeit im Gefängnis, aber ich vermute, du bist nicht diszipliniert genug, um damit klarzukommen. Also bist du vielleicht bei einem Wachdienst? Oder Rausschmeißer in einem Nachtclub? In Temple Fields gibt es ja jede Menge davon. Jedenfalls etwas, wo du dich aufspielen kannst.« Er hob den Blick und ließ ihn über die bunte Menge schweifen, die ihren Geschäften nachging. Auf der entgegengesetzten Seite des Platzes tippte eine Frau in einer dunkelblauen Uniform mit dem Stift Daten in einen kleinen Computer ein. »Oder Verkehrspolizist«, murmelte Tony. »Die kennen die Straßen.«
Ungeduldig stand er auf. Er hatte nicht das Gefühl, voranzukommen. Irgendwie schien ihm die Psyche des Mörders so schwer zu fassen wie verrottete Herbstblätter, die in der Hand zerfielen, bevor er Gelegenheit hatte, sie genauer zu betrachten. Er konnte die wichtigen Fäden nicht verfolgen, die ihn durch das Labyrinth führen würden. Nie zuvor hatte er so etwas erlebt und verstand nicht, warum es jetzt bei diesem Fall so lief. Konzentrierte er sich zu sehr auf seine eigene Schuld und auf sein Bedürfnis, Carol zu schützen? Oder war etwas an diesem Mörder anders, etwas, das ihn von den kranken Gehirnen unterschied, denen Tony bislang begegnet war?
Er hatte zu viele Jahre mit Serientätern gearbeitet – Vergewaltigern, Mördern, Brandstiftern und Pädophilen –, um sie als eine homogene Gruppe sehen zu können. Manche waren hochintelligent. Andere – wie Derek Tyler – schienen für ihre Verbrechen kaum helle genug. Manche hatten oberflächliche Fähigkeiten, mit denen sie sich in der Gesellschaft bewegen konnten. Andere würden bei jedem normalen Menschen aus hundert Meter Entfernung die Alarmglocken schrillen lassen, die sie als Irre oder Gestörte auswiesen. Manche waren fast dankbar, erwischt zu werden, damit sie sich von der Bürde ihres zwanghaften Verhaltens befreien lassen konnten. Andere sonnten sich im Ruhm einer perversen Medienkultur. Eines stand fest: Ihre Taten trugen den einzigartigen Stempel ihrer jeweiligen ganz besonderen psychischen Verfassung, und das war immer der Weg gewesen, den Tony mit ihnen zusammen hatte beschreiten können.
Aber diesmal war es anders. Diesmal hatte er das Gefühl, es sei unmöglich.
Das Peccadilloes lag in einer Seitenstraße in Manchesters Northern Quarter, einem aufpolierten Teil der Stadtmitte, wo die Modebranche allmählich von der sich verändernden Wirtschaftslage verdrängt und durch Kunstgewerbe, Wohnungen und hippe Boutiquen ersetzt wurde. Eine unglückliche Mischung aus Straßen mit roten Backsteinhäusern, renovierten viktorianischen Großbauten und moderner bodenständiger Architektur, die so aussehen sollte, als passe sie da hinein, drängte sich an den schmalen Gehwegen. Jan Shields lotste sie wie eine Einheimische durch die vielen Einbahnstraßen und zeigte ihr das Ziel, als sie daran vorbeifuhren.
»Du kennst dich wohl hier aus«, war Paulas Kommentar, als sie nach Jans Anweisung über eine schwierige Kreuzung fuhren.
»Ich mache seit Jahren hier im Craft Village meine Weihnachtseinkäufe«, sagte Jan. »Es ist schön, den Leuten etwas Individuelles zu schenken, das sie in Bradfield nicht schon gesehen haben. Und es gibt zwei ganz gute Restaurants, in denen man sich danach erholen kann.« Sie wies Paula an, auf einen kleinen parkscheinpflichtigen Parkplatz zu fahren, wo sie den Wagen stehen lassen konnten.
Sie hatten eine ruhige Fahrt über die Pennines gehabt. Jan hatte den größten Teil der Fahrt mit einer Unterhaltung per SMS verbracht, die sie ziemlich amüsant fand. Aber sie hatte Paula nicht mitgeteilt, was so lustig war. Sie hatten fast nur ein Thema besprochen: ob Carol Jordan der Aufgabe gewachsen war. Paula hatte ihre Chefin verteidigt, obwohl auch sie Zweifel hatte. Man konnte vielleicht Carols Beurteilung von Don in Frage stellen, aber andererseits gehörte ja Jan Shields eigentlich gar nicht zu ihrer Gruppe. Also verlangte es die Loyalität, dass Paula voll hinter Carol stand. Da Jan sah, dass sie nichts erreichte, gab sie auf und beschäftigte sich mit ihrem Mobiltelefon.
Als sie auf das Peccadilloes zugingen, wurde Jan munter. »Das wird ’n Spaß« verkündete sie. »Es gibt doch nichts Besseres, als sich mal ’n bisschen zu kostümieren,
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