Toedliche Wut
welches Jahr wir haben.«
Ich kann mir kaum vorstellen, was das bedeutet. Die Zustände hier waren grauenhaft – ein schmutziges, feuchtes Loch ohne sanitäre Anlage. Die Geiseln sind alle unterernährt und verdreckt, und was die neun Jahre psychisch mit ihm gemacht haben, wage ich mir kaum auszumalen.
»Weiß er, dass seine Eltern tot sind?«, frage ich.
»Noch nicht.«
Rebecca Mast fällt mir ein, ihr Selbstmord. »Bei alledem frage ich mich, was damals mit seiner Schwester wirklich passiert ist.«
Tomasetti nickt. »Wir haben Noah danach gefragt. Offensichtlich haben seine Eltern ihn für ihren Tod verantwortlich gemacht.«
»Aber es war doch Selbstmord.«
»Vielleicht. Wir müssen uns den Obduktionsbericht genau ansehen, die Leiche möglicherweise exhumieren.«
Ich frage mich, wieso die Eltern den Sohn für schuldig hielten. »Hat Noah gesagt, warum sie ihm die Schuld gegeben haben?«
»Dazu hatten wir noch keine Zeit. Die Sanitäter haben ihn ins Krankenhaus nach Mayfield Heights gebracht, wo er erst einmal bleibt. Wenn dort die Formalitäten erledigt sind, setzen wir die Befragung in seinem Zimmer fort.« Tomasettis Gesicht verdüstert sich. »Hast du noch was von den Mädchen erfahren?«
»Nichts von Bedeutung, sie sind ziemlich mitgenommen.«
»Wir müssen mit ihnen reden.«
»Bonnie Fisher und Ruth Wagler sind im selben Krankenhaus wie Noah. Sadie ist nach Millersburg ins Pomerene gekommen, damit die Familie bei ihr sein kann.«
Stille tritt ein, nur das statische Knistern des Polizeifunks und das Platschen des Regens sind zu hören. »Tomasetti, was zum Teufel ging hier vor?«
Er schüttelt den Kopf, hat weder eine Antwort noch das Vorstellungsvermögen, um die Niedertracht und den Irrsinn des Ganzen zu verstehen.
»Die Masts kamen mir so normal vor«, sage ich.
»Nur dass sie mindestens fünf Teenager gekidnapped, mindestens drei Menschen umgebracht und ihren eigenen Sohn neun Jahre lang gefangen gehalten haben«, knurrt er.
In dem nachfolgenden Schweigen sehen wir einem Trooper in gelber Regenjacke zu, wie er einen jungen Reporter abwimmelt, während wir im Stillen weiter nach Antworten suchen. Meine Gedanken kreisen um Bonnie Fisher, Sadie Miller und Noah Mast. Tomasetti hat recht: Sie sind unsere besten Informationsquellen, um nicht zu sagen unsere einzigen, wo die Masts jetzt tot sind.
Hoffentlich wissen sie genug, um uns das Warum beantworten zu können.
* * *
Der Abschluss einer Ermittlung geht mit zahlreichen Belohnungen einher. An oberster Stelle rangiert das Wissen, einen gefährlichen Menschen – in diesem Fall zwei – aus dem Verkehr gezogen und weiteres Unheil verhindert zu haben. Zudem ist es äußerst befriedigend, gute Arbeit zu leisten und zu wissen, dass die Energie und die Zeit, die man investiert hat, sich bezahlt gemacht haben. Und nicht zuletzt die intellektuelle Genugtuung, schließlich dem »Warum« nachgehen zu können.
Mehr als alles andere ist Letzteres der Motor, der Tomasetti und mich antreibt, als wir in die Notaufnahme des Hillcrest Hospital in Mayfield Heights, einer kleinen Gemeinde östlich von Cleveland, kommen.
Schweigend fahren wir im Aufzug nach oben, wo die Türen sich zu einer hell erleuchteten Krankenstation öffnen. Eine korpulente Frau in pinkfarbenem Arztkittel sitzt am Schreibtisch und starrt auf den Computerbildschirm. Sie sagt nichts, als wir eintreten, doch ihr Mund verzieht sich zu einem dünnen, unfreundlichen Strich. Vermutlich sieht sie es nicht gern, dass die Polizei ihre neuen, im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit stehenden Patienten befragt.
Zahlreiche Türen reihen sich entlang des weiß gekachelten Flurs. Wir müssen nicht fragen, in welchen Zimmern die Opfer der Masts liegen. Vor den Nummern 308 und 312 stehen zwei Deputys des Sheriffbüros von Lake County sowie ein State Highway Patrol Trooper, trinken Kaffee und unterhalten sich leise. Als wir uns nähern, beäugen sie uns mit dem finsteren Blick eines Hunderudels, das sein Revier von Eindringlingen bedroht sieht. Ein Polizist vom örtlichen Revier sitzt auf einem Stuhl und liest in einer Illustrierten.
Da das Verbrechen im ländlichen Lake County verübt wurde, fällt der Fall in den Zuständigkeitsbereich des Sheriffbüros. Weil aber Tomasetti und ich seit Bildung der Sonderkommission Teil der Ermittlungen sind, dürfte unsere Anwesenheit bei den Verhören kein Problem sein.
Tomasetti und ich zeigen unsere Dienstmarken. Einer der Deputys kommt auf uns zu und
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