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Tödlicher Applaus

Tödlicher Applaus

Titel: Tödlicher Applaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Øystein Wiik
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später wurdet ihr, Hans und du, vor der Tür des Kinderhauses gefunden. Ihr habt perfekt ins Konzept gepasst.«
    Das GPS war verstummt. Der rote Pfeil war stehen geblieben.
     

Maria
    Anna war in einen Krankenwagen gebracht worden, und Michael Steen saß neben ihr. Sein Mund öffnete sich, um etwas zu sagen, aber seine Zunge weigerte sich, die Worte zu bilden. Er versuchte, das Chaos seiner Empfindungen zu entwirren. Die Vergangenheit wiederholte sich: Erneut war er hin- und hergerissen zwischen unsäglicher Freude und verzweifelter Trauer. Das Wunder war geschehen, und zugleich drohte eine Katastrophe. Seit mehr als zwanzig Jahren hatte er sich Tag für Tag gewünscht, dass Anna aufwachte, doch nun schwebte Maria, der Lichtblick seines Lebens, in höchster Gefahr.
    »Papa«, sagte Anna und sah ihren Vater mit stiller Verwunderung an.
    Steen konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten. Für diesen Augenblick hatte er all die Jahre gelebt. Die Hoffnung darauf hatte ihn aufrecht gehalten und ihn daran gehindert, den Verstand zu verlieren. Trotzdem war er jetzt kurz davor durchzudrehen.
    Die Andeutung eines Lächelns huschte über Annas Lippen. Zum Glück wusste sie nichts von dem Drama, in dessen Mittelpunkt ihre Tochter stand. Sollte er es ihr erzählen? Nein, diese Bürde musste er allein tragen.
    »Wir müssen fahren.« Die Stimme des Sanitäters klang behutsam und zurückhaltend. »Fahren Sie mit ins Krankenhaus?«
    Steen holte tief Luft, bevor er antwortete. Ihm versagte fast die Stimme: »Nein, ich bleibe hier.«
    »Wir werden gut auf sie aufpassen, bis Sie sich wiedersehen.« Der Sanitäter legte Steen eine Hand auf die Schulter.
    Wenn wir uns wiedersehen, ist Maria vielleicht tot – wie ein Schwert bohrte sich dieser Gedanke in Michaels Herz. Er hätte seiner Tochter gerne übers Haar gestrichen, aber seine Hand zitterte so stark, dass er befürchtete, Anna zu beunruhigen. »Ich komme, so schnell ich kann.« Er stand auf und stieg aus dem Rettungswagen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Er hatte Angst, seine Tränen könnten ihn verraten.
    Im selben Moment meldete sich ein weiterer Gedanke, ein Gedanke, der ihn noch mehr lähmte als die Angst um Maria. War es seine Schuld? Waren es seine Unternehmungen, die seine Enkeltochter in die Katastrophe gestürzt hatten? Seine Verbindung zu Stan Vasilov? Der Brief, den er an Medina geschrieben hatte?
    Trotz der kühlen Abendluft brach ihm der Schweiß aus. Er blickte zu dem Zelt hinüber, in dem Maria saß und auf Rettung wartete. Der Gedanke an sie und den Kampf, den sie gerade ausfocht, gab ihm das Gefühl totaler Hilflosigkeit. War es seine Schuld?
    Michaels Hand tastete nach dem Handy und wählte eine Nummer. Er musste Gewissheit haben. Eine abweisende Stimme bellte einen kurzen Satz in den Hörer, dann wurde die Verbindung unterbrochen. »Wir haben die Situation unter Kontrolle« – was war damit gemeint? Steen wählte die Nummer noch einmal. »Ich muss etwas wissen«, begann er. »Vergiss es, du brauchst einen Scheißdreck zu wissen!« Wieder hatte der andere aufgelegt, bevor er seine Frage stellen konnte. Steen wählte die Nummer ein drittes Mal, aber dieses Mal wurde das Gespräch gar nicht erst angenommen. Er steckte das Handy in die Tasche und ging zurück zur Polizeiabsperrung.
    In dem provisorischen Zelt, von zahlreichen Wachen umgeben, saß sein einziges Enkelkind und wartete auf den Sprengstoffexperten. Die Wachen ließen ihn durch, und er bewegte sich langsam auf das Zelt zu. Er empfand tiefe Reue und eine noch nie erlebte Ohnmacht. Er war schuldig, zu hundert Prozent, er und sein Wunsch nach Rache an Victor Kamarov. Das Einzige, was er jetzt noch tun konnte, war, für Maria da zu sein, ihre Hand zu halten und zu versuchen, sie zu stützen.
    Er betrat das Zelt. Maria hatte darauf bestanden, allein zu bleiben, wollte niemanden in Gefahr bringen.
    »Hallo«, sagte Steen. »Brauchst du etwas? Kann ich dir etwas holen?«
    Maria schüttelte den Kopf.
    Wenn er doch nur den Mut hätte, ihr zu gestehen, wie alles zusammenhing. Dann könnte er sie wenigstens um Verzeihung bitten. Aber diesen Mut würde er nie aufbringen, denn wenn er ihr alles sagte, würde sie ihn für den Rest seines Lebens hassen.
    Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.
    Steen ergriff die Hand, die im Laufe des Abends dünn und klein geworden war, und setzte sich neben sie.
    Maria legte den Kopf an seine Schulter und weinte still. »Ich vermisse Mama und Papa«, flüsterte sie.
    Steen

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