Tödlicher Applaus
auf ihn ein, als er sie notieren konnte. Erinnerungen an schwere Zeiten. Sie begannen mit dem ersten Antwortbrief, der im Büro in der Gumpendorferstraße eingetroffen war. Er trug den Stempel der Bayerischen Staatsoper. Victor war so sicher gewesen, dass sie dort angebissen hatten. Er bekam den Umschlag vor lauter Aufregung kaum auf. Der Brief zerschlug hingegen all seine überspannten Hoffnungen und Erwartungen. »Wir haben Ihren Brief mit der Information über den Tenor James Medina zur Kenntnis genommen. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass alle Positionen in unserem Haus für die nächsten zwei Jahre bereits besetzt sind. Sollte sich eine Vakanz ergeben, werden wir Sie gegebenenfalls kontaktieren. Lebenslauf und Fotos erhalten Sie von der Dramaturgie zurück.«
Die Enttäuschung von damals steckte ihm noch heute in den Knochen. Er hatte die Wut als treibende Kraft genutzt, als ein Brief nach dem anderen mit ähnlichem Wortlaut eintraf: »Keine freien Stellen, rufen Sie uns nicht an. Wir melden uns bei Ihnen.« Ohne Gina hätten sie es niemals geschafft. Arme Gina.
Victor legte den Füllfederhalter beiseite. Manche Erinnerungen hielt man besser nicht schriftlich fest. Seine großen Hände wischten energisch über die glatte Tischplatte, als wollten sie sein ohnehin mageres Schuldgefühl angesichts unerfreulicher Erinnerungen wegfegen. Doch diesmal wirkte es nicht. Gegen seinen Willen hörte, sah und erlebte er noch einmal die Ereignisse vom Herbst 1987, und dies mit einer Plastizität, als würde er sie just in diesem Moment erleben.
Hatte er sie geliebt? Er glaubte, nicht. Auf jeden Fall war es nicht seine Schuld, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Sie war plötzlich da gewesen, wie ein herrenloser Hund, der ihm zugelaufen war. Und er hatte sie wie einen Hund behandelt.
Sie waren zu dritt in der Bennogasse wohnen geblieben, in James’ kleiner Behausung. James hatte darauf bestanden, das Schlafzimmer für sich zu behalten, also hatten Gina und Victor ihre Lager im Wohnzimmer aufgeschlagen. Es hatte sich nicht vermeiden lassen, dass sie miteinander schliefen. Gina schrieb heimlich Tagebuch, und Victor las heimlich darin. Sie nannte ihn »den rettenden Engel«. »Ich bitte gar nicht um mehr, als dass er dankbar ist und dass ich mit ihm zusammen sein darf.«
Es war angenehm mit Gina. Sie nahm Putzjobs an, um sie alle drei zu versorgen, denn es war nicht gerade billig, einen Tenor von Weltruhm aufzubauen.
Die Bürokosten, endlose Telefonate ins In- und Ausland, teures Briefpapier und Hochglanzbroschüren über James Medina, Kleidung fürs Vorsingen, Fitnessstudio und Lektionen bei habgierigen Gesangspädagogen. Gina schuftete mit Todesverachtung vom frühen Morgen bis spät in die Nacht. Alles wird gut, lautete ihr Refrain. Victor brauchte das Geld und schloss die Augen, wenn Gina bezahlte. Er war sich der Situation schmerzlich bewusst, aber er war zu stolz, um es zuzugeben. Er wollte ihr das Geld zurückzahlen, sobald sich der Erfolg einstellte. Gina hatte ihm vertraut und sich weiter an ihren Refrain geklammert: Alles wird gut.
Es kam anders, denn der Erfolg blieb aus. Der harte Einsatz zeigte keine Resultate. Niemand war an James Medina interessiert. Wollten sie vorankommen, mussten sie die Taktik ändern und radikalere Maßnahmen ergreifen.
Victor hatte einen Alternativplan. Die Idee war ihm gekommen, nachdem er ein paar Gerüchte über Francesco Arpata aufgeschnappt hatte, einen der Tenöre an der Wiener Staatsoper. Es war ein gewagtes Spiel, aber stimmten die Gerüchte auch nur annähernd, standen die Chancen gut. Im Nachhinein hatte er sich immer wieder eingeredet, aus purer Not gehandelt zu haben.
James war ins Büro gekommen und hatte vor Erschöpfung geweint. »Ich kann nicht mehr. Ich gebe auf.«
Victor war an die Decke gegangen. »Was bildest du dir eigentlich ein, du feiste Texashure!«
Gina scheuerte auf allen vieren die Böden. Sie konnte es nur schwer ertragen, wenn James und Victor stritten.
»Es tut sich nichts, absolut gar nichts.«
»Das liegt daran, dass du zu schlecht singst! Du singst wie ein Pole! Niemand will dafür zahlen, einen Tenor zu hören, der wie ein Pole klingt!«
Gina stand auf, nahm den Putzeimer und ging auf den Flur, um frisches Wasser zu holen.
James plusterte sich auf und ging zum Gegenangriff über: »Vielleicht ist das ja alles deine Schuld? Die Briefe, die du in alle Welt verschickst, sind voller Schreibfehler. Was ist das für ein Manager, der mit den
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