Tödlicher Applaus
verzweifelt.
»Das hängt von dir und mir ab.«
Gina wollte die Hand wegziehen, aber Victor hielt sie fest. Er sah ihr aufrichtig in die Augen und fuhr fort: »Wenn die anderen schummeln, können wir das doch auch, meinst du nicht?«
Gina holte Luft.
»Meinst du nicht?«
»Doch, vielleicht«, sagte Gina.
»Sieh dich um. All die Menschen, die du hier siehst, die Berühmten und Reichen. Wie, glaubst du, haben die es so weit gebracht? Die Antwort ist ganz einfach. Jeder von ihnen hat irgendwann etwas getan, das kein Tageslicht verträgt. Nur so ist er dorthin gekommen, wo er jetzt ist.«
Gina spürte die Verzweiflung in sich aufsteigen. Wenn er nur nichts Ungesetzliches von ihr verlangte.
»Jeder Einzelne von ihnen. Grab nur tief genug, und du wirst auf Scheiße stoßen. James’ Problem ist, dass er zu ehrlich ist, zu naiv, zu rechtschaffen, um weiterzukommen. Du und ich, wir müssen für ihn kämpfen, Gina. Du und ich. Wir haben die Chance, die Welt zu verändern. Das ist unser Teil der Aufgabe. Bist du bereit, Verantwortung zu übernehmen, Gina? Für James, für uns?«
»Was soll ich machen?«, hörte sie sich fragen.
Victor zog die Mundwinkel zu seinem charakteristischen Wolfsgrinsen nach oben. »Ich habe Francesco Arpata heute Abend zum Essen eingeladen. Und ich möchte, dass du uns Gesellschaft leistest. Fünf-Gänge-Menü im Palais Schwarzenberg.«
»Ich habe nichts zum Anziehen.« Ginas Protest war die Bitte, er möge sie verschonen, mehr konnte sie ihm nicht entgegensetzen.
Victor zauberte einen Umschlag hervor und gab ihn Gina. »Das ist der Schlüssel zu deinem Zimmer im Palais Schwarzenberg. Dort wirst du alles finden, was du brauchst.«
»Können wir uns das denn leisten?«
»Können wir es uns leisten, es nicht zu tun? Glaubst du, Arpata würde mit einem Russenschwein aus der Gumpendorferstraße essen gehen?«
Gina sagte nichts mehr. Victor hatte ihre Frage missverstanden, aber die Antwort war eindeutig gewesen. Er leistete es sich, das zu opfern, was zwischen ihnen war. Sie erhob sich, drückte die Handtasche an ihren Bauch und starrte sie an, als wäre sie der einzige Halt, den sie noch hatte.
Victor beugte sich vor und schaute zu ihr hoch. »Alles klar?«
Gina biss sich auf die Unterlippe. »Alles wird gut«, sagte sie.
Medinas Witwen
Medinas Beisetzung war eine erstklassige Vorstellung. Es war wie zu seinen Lebzeiten: Er füllte das Haus. Noch dazu war er in Wien so etwas wie ein Volksheld: Hier hatte er seine größten Triumphe gefeiert, hier war er Zentrum eines Personenkultes, der sonst nur um Rockstars gemacht wurde.
Und Kamarov führte Regie. Er hatte Fiaker gemietet, die die geladenen Trauergäste zur Kirche transportierten. Zwischen den Fiakern fuhr ein Lastzug mit einer Orchesterplattform, auf der Musiker der Wiener Staatsoper saßen. Ihnen folgte ein weiterer Lastzug mit Opernsängern, die, vom Orchester begleitet, den Gefangenenchor sangen. Doch das größte Aufsehen erregte die endlose Reihe trauernder Frauen, deren Gesichter hinter schwarzen Schleiern verborgen waren und die eine einzelne rote Rose in der Hand hielten.
Tom Hartmann hatte einen Platz in einem Fiaker unmittelbar vor dem Zug der Frauen bekommen und überlegte, mit wie vielen von ihnen Medina wohl wirklich eine Affäre gehabt hatte. Sie hatten sich, wie er erfahren hatte, über ein Forum auf Facebook organisiert, das sich »Medinas Witwen« nannte. Innerhalb weniger Minuten hatten sich Tausende registriert, sich auf die Trauerkleidung und die Blume geeinigt und dafür gesorgt, dass ihnen ein Platz im Trauerzug eingeräumt wurde. Sogar eine Prozession in der Kirche war ihnen bewilligt worden, die auf ein abgesprochenes Signal hin beginnen sollte.
Der Ring war am Vormittag für den Verkehr abgeriegelt worden, um Platz für den Trauerzug zu schaffen, der bei der Oper in die Kärntner Straße Richtung Stephansdom einbog, in dem die Zeremonie stattfinden sollte.
Später würde Medinas Leichnam zum Zentralfriedhof überführt werden, wo ihm das Ehrengrab Nummer 53 in der Gruppe 32A zugeteilt worden war. Dieser Bereich des Friedhofes hatte nur sechzig Plätze. Hier waren Schubert, Brahms, Beethoven und Mozart bestattet. Hier lagen Schriftsteller, Schauspieler, Bildhauer und berühmte Opernsänger wie Alois Ander, Amalia Friedrich-Materna und Marie Wildt.
Der majestätische Stephansdom war bis auf den letzten Millimeter mit Trauergästen gefüllt, die unter den gigantischen Mauerbögen winzig klein wirkten.
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