Tödlicher Ausweg: Thriller (German Edition)
vermied es wohlweislich, die anderen Anwälte anzusehen, die zweifellos schon ein paar Stunden hier saßen. Im Anwaltszimmer war es still, da wir alle in unseren Berichten lasen und uns auf die Vernehmung vorbereiteten. Zehn Minuten später wurde Ronald Yamaguchi in Fußketten und Handschellen, die an der Hüfte festgekettet waren, durch den verglasten Flur geführt. Er hielt einen Notizblock in der Hand. Sein Gesichtsausdruck war überraschend heiter.
»Werdet ihr das Gespräch mitschneiden?«, fragte Walter.
»Ja«, sagte Bailey. Sie holte ein kleines digitales Aufnahmegerät aus der Jackentasche und stellte es auf den Tisch.
Die Tür öffnete sich. Yamaguchi wurde in den Raum geführt und neben Walter platziert, Bailey und mir gegenüber. Ich musste zweimal hinschauen. Im Gerichtssaal war mir das nicht aufgefallen, aber mit seinem dunklen Teint, den pechschwarzen schulterlangen Haaren und dem durchtrainierten Körper stand Yamaguchi der hässliche orangefarbene Overall erstaunlich gut. Das sollte ich ihm vielleicht mal sagen – obwohl das jetzt wohl nicht der richtige Zeitpunkt war.
Bevor sein Mandant etwas sagen konnte, klärte Walter ihn auf, dass alles mitgeschnitten wurde, und zeigte auf das Gerät.
»Gut«, antwortete Yamaguchi.
Interessante Reaktion. An Baileys hochgezogener Augenbraue erkannte ich, dass sie es genauso sah. In aller Ruhe verlas sie seine Rechte. Er hatte keine Einwände, und wir kamen zur Sache.
»Was haben Sie damals in der Gegend gemacht?«, fragte ich ihn.
»Ich arbeite in Little Tokyo«, antwortete er. »Und in der Straße, wo es passiert ist, befindet sich meine Bank. Ich habe Geld eingezahlt und war auf dem Rückweg zur Arbeit, als ich den obdachlosen Typen sah.«
Ich nahm mir vor, ihn später zu fragen, wo genau er arbeitete und wo seine Bank war.
»Wie sind Sie auf ihn aufmerksam geworden?«
»Durch sein Verhalten«, antwortete Yamaguchi. »Er hat die Frau praktisch angesprungen und ihren Arm gepackt. Ich dachte, er will ihr etwas antun.«
Das entsprach nicht ganz dem, was er gesagt hatte, als er vor Ort befragt worden war – zumindest nicht, wenn man dem Verhaftungsprotokoll Glauben schenken durfte. Andererseits wich es auch nicht allzu sehr davon ab. Irgendwie schien alles eine Frage der Gewichtung zu sein. Die Wahrheit ist manchmal dehnbar.
»Hatte die Frau eine Handtasche dabei?«, fragte ich.
Yamaguchi dachte einen Moment nach, dann schüttelte er den Kopf. »Vielleicht aber doch. Dazu habe ich sie nicht gut genug gesehen.«
»Können Sie uns beschreiben, was der Mann genau getan hat, als er nach ihr gegriffen hat?«
Ich stellte bewusst offene Fragen, damit er sich nicht später darauf berufen konnte, dass ich ihn in eine bestimmte Richtung gedrängt hätte.
Yamaguchi starrte einen Augenblick an die Wand hinter meiner Schulter, bevor er antwortete. »Ich stand auf dem Gehweg, direkt vor meiner Bank. Aus dem Augenwinkel sah ich eine schnelle Bewegung. Er hat sich praktisch im selben Moment auf die Frau gestürzt und zugepackt«, erzählte Yamaguchi und runzelte die Stirn bei der Erinnerung. »Er schien ziemlich sauer zu sein …«
»Konnten Sie denn sein Gesicht sehen?«
»Nein. Aber es kam mir so vor. Vielleicht hatte es damit zu tun, wie er nach ihr gegriffen hat. Er hat ihren Ellbogen gepackt wie …«
Yamaguchi ließ seine Hand vorschießen, um es zu demonstrieren, vergaß aber, dass sie an die Hüfte gekettet war. Die Bewegung, die ein lautes Klirren provozierte, wurde ein paar Zentimeter vor der Hüfte gestoppt. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Schock ab.
»Hat er ihren Ellbogen denn tatsächlich zu packen bekommen?«, fragte ich.
»Ja. Deshalb dachte ich ja, dass er sie vielleicht verletzen könnte, und habe seinen Arm runtergeschlagen. So.«
Yamaguchi tat sein Bestes, um den Ablauf nachzustellen. Als er seine Hand vorsichtig hob und zu einer Art Karateschlag ansetzte, sah ich das Muskelspiel an seinem Unterarm. Das wäre ein kräftiger Schlag gewesen.
»Haben Sie bei dem obdachlosen Mann eine Waffe gesehen?«, fragte ich.
»Nein.« Energisch schüttelte er den Kopf. »Aus irgendeinem Grund habe ich nicht einmal daran gedacht, dass er eine haben könnte. Dumm, was?« Er wirkte selbst verblüfft. »Der Typ hätte mich auf der Stelle erledigen können. Tatsächlich habe ich dann später erfahren, dass er ein Teppichmesser dabeihatte …«
»Damals haben Sie aber kein Teppichmesser gesehen?«, fragte ich leichthin.
Das war ein kritischer Moment.
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