Tödlicher Ausweg: Thriller (German Edition)
»Ich hätte gern noch ein Glas Wein.«
31
D ie Sonne war längst untergegangen, und nur das bleiche Mondlicht schien noch durch die Fensterfront ihres Lofts. Sabrina saß an ihrem Schreibtisch und bemerkte die Dunkelheit gar nicht. Sie starrte auf den Computer, das Gesicht ins kühle bläuliche Licht des Bildschirms getaucht.
Chase, der auf dem Sofa eingeschlafen war, regte sich und öffnete ein Auge. In einer einzigen schnellen Bewegung stand er auf und ging zum Schreibtisch hinüber, die Schritte vom dicken Teppich gedämpft. Im selben Moment, als er neben ihr auftauchte, minimierte Sabrina die Seite auf ihrem Bildschirm. Ohne sich umzudrehen, fragte sie: »Gibt es schon etwas über den Geschäftsführer zu berichten?«
»Ja«, antwortete er, trat näher und zeigte auf den Computer. »Hast du auch etwas über ihn gefunden?« Das hatte er bewusst gefragt. Er meinte zu wissen, wonach sie recherchierte, und das hatte nichts mit dem Geschäftsführer zu tun. Die Sache beunruhigte ihn.
Sabrina wandte sich um und starrte ihn an, ein deutliches Zeichen: Halt dich da raus. Chase war klug genug, um zu wissen, dass er das nicht ignorieren sollte. Er trat einen Schritt zurück. »Keine Freundinnen oder Liebhaber, soweit ich es überblicke«, sagte er. »Keine Pornos, keine zwielichtigen Geschäftspartner, weder jetzt noch früher. Keine unehelichen Kinder, keine Klagen, nichts. Vielleicht fällt dir ja noch etwas ein …«
Chase war ein großartiger Flügelkämpfer mit herausragenden technischen Fähigkeiten – über die Sabrina dank ihrer Erfahrung und ihres Instinkts allerdings auch ansatzweise verfügte. Kreatives Denken jedoch war eine Kompetenz, die ausschließlich ihr zukam. Anders als Chase, der nur am Geld interessiert war, zog Sabrina einen erotischen Reiz daraus, Informationen zu sammeln, die ihr die Macht verliehen, ein Leben für immer und ewig zu zerstören. Für sie war das Geld zweitrangig, obwohl sie zugeben musste, dass es sehr dicht darauf folgte. Sie lehnte sich zurück und trommelte leise auf den Armlehnen herum.
»Mein Instinkt sagt mir, dass unser Geschäftsführer keine sexuelle Achillesferse hat. Er ist auch nicht der narzisstische Machtmensch, wie Politiker es oft sind. Wenn ich es aber recht sehe, hat er in ziemlich kurzer Zeit ziemlich viel Geld gemacht. Sieh doch mal, ob er bei seinen Investitionen nicht ein Quäntchen zu viel Glück hatte.«
Chase nickte. Ihr Instinkt für die Schwachstellen eines Menschen war so unfehlbar, dass es schon ans Übersinnliche grenzte. Er stand auf und wollte gehen.
»Du kannst hier schlafen, wenn du mit der Arbeit fertig bist«, sagte Sabrina. Sie wusste, dass er in seinem eigenen Bett nie so gut schlief wie in ihrem Büro.
»Bleibst du auch da?«
»Nein.«
»Dann gehe ich wahrscheinlich nach Hause, wenn ich fertig bin. Aber danke.« Chase salutierte zum Scherz.
Sabrina wandte sich ihrem Computer zu und stellte das Fenster wieder her, mit dem sie sich zuvor beschäftigt hatte, aber sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Sie schloss das Fenster und fuhr den Computer herunter. Weder sie noch Chase konnten gut schlafen. Bei ihr hatte das schon in frühester Kindheit angefangen, weil sie nie wusste, was sie beim Erwachen erwartete. Was würde sie schon wieder alles falsch gemacht haben? Und was wäre diesmal die Waffe der Wahl? Ein Besen? Ein Schuh? Ein Drahtbügel? Der Bügel war das Schlimmste. Der Draht riss hässliche rote Striemen in die Haut und zwang einen dazu, im glühend heißen Sommer eine lange Hose zu tragen, um die Schmach zu verbergen. Und sie hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte. Ihr Vater merkte nichts und wollte auch nichts merken. Er sah in seiner kleinen Tochter einfach einen Kumpel – ein Refugium vor der Frau, die er geheiratet, aber nie kennengelernt hatte, und die sie nun beide hassten und fürchteten.
Als sie dann im reifen Alter von zehn Jahren ins Internat kam, war das irgendwie sogar eine Erleichterung. Das redete sie sich zumindest ein. Selbst Sabrina war schließlich klar, dass ihr Leben nur im Desaster enden konnte. Bevor sie ins Internat abgeschoben wurde, war sie nämlich bei einer ständig wachsenden Zahl von Missetaten erwischt worden – angefangen bei Prügeleien auf dem Spielplatz über Ladendiebstahl bis hin zu Brandstiftung. Diese Eispenderin von einer Mutter hatte den Schulpsychologen freudig zugestimmt, dass ein Ortswechsel und die besondere Disziplin eines Internats sie auf die rechte Bahn
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