Tödlicher Ausweg: Thriller (German Edition)
ich immer noch unter Schuldgefühlen litt. Sie war auch der Meinung, dass mich wahre Freunde nie verurteilen oder bemitleiden oder wie die Dorfsensation behandeln würden. Warum sollte man es aber darauf anlegen? Romy war seit über zwanzig Jahren verschwunden, und ich wüsste nicht, warum eine Beziehung alle Parteien dazu verpflichten sollte, die gesamte Lebensgeschichte vor dem anderen auszubreiten.
Meiner Meinung nach sollten Erwachsene entscheiden dürfen, was sie mit wem teilen wollten … und was sie lieber für sich behielten.
37
D iese Einstellung passte gut zu Los Angeles. Was ich nicht wusste, als ich mich für L.A. entschieden hatte, war, dass diese Stadt Vertraulichkeiten praktisch unterband. Anders als andere Städte zwang sie dich mit ihrer gewaltigen Ausdehnung, für jedes Ziel das Auto zu nehmen. Auf seinen alltäglichen Wegen lernte man also nie jemanden kennen. Ohne Verabredung war es auch verdammt unwahrscheinlich, dass man irgendwelchen Bekannten über den Weg lief. Leute, die aus Los Angeles kamen, waren eine Seltenheit – die meisten Einwohner hatte es aus anderen Landes- wenn nicht gar Weltteilen hierher verschlagen. Und obwohl man nun meinen könnte, der unterschiedliche Hintergrund würde die persönliche Geschichte eines Menschen in den Vordergrund rücken, habe ich eher die gegenteilige Erfahrung gemacht. Die Menschen erkundigten sich nur selten nach meiner Vergangenheit, und wenn sie es taten, gaben sie sich mit meinen minimalistischen Antworten umstandslos zufrieden.
Begeistert hatte ich mich in diesen Kokon der Anonymität eingesponnen. Anfangs hatte ich meine Schutzhülle sorgsam bewacht, aber nach Jahren ohne nennenswerte Herausforderungen gelangte ich allmählich zu der Auffassung, dass es keinerlei Anlass zur Sorge gab. Meine Sicherheit bestand nun in dem Wissen, dass ich Risse nicht zu fürchten hatte, weil niemand sich darum scherte. Und so fühlte ich mich jetzt vollkommen überrumpelt. Dass Graden ohne meine Zustimmung in meiner Vergangenheit gewühlt hatte, machte mich sprachlos, und die Überraschung verwandelte sich innerhalb weniger Sekunden in Wut.
»Wie kannst du es wagen?«, fragte ich und schnappte nach Luft.
»Was … was meinst du?«, fragte Graden. Er wirkte schockiert.
»Wie zum Teufel kannst du in meinem Leben herumschnüffeln, ohne mich vorher zu fragen? Ich bin doch nicht irgendein dahergelaufener Gauner, über den man Recherchen anstellt.«
Meine Stimme war leise und ruhig, aber ich zitterte vor Wut. Graden riss die Augen auf.
»Warum hast du mir nichts von Romy erzählt?«, fragte er. »Ich dachte, wir seien ein Paar …«
»In einer Beziehung respektiert man die Grenzen des anderen. Man wirbelt nicht den Dreck aus der Vergangenheit auf, nur weil man dazu in der Lage ist.«
Brüsk warf ich mein Haar aus dem Gesicht und wurde mit jeder Sekunde zorniger.
»Dreck aus der Vergangenheit?«, erwiderte er. »Die Entführung deiner Schwester ist keine schmutzige Geschichte. Es ist ein Ereignis, das dein Leben verändert hat. Ich hänge an dir. Denkst du nicht, ich habe ein Recht darauf, etwas darüber zu wissen?«
»Ein Recht?«, rief ich. »Das denke ich ganz bestimmt nicht. Du hast ein Recht darauf, das zu erfahren, von dem ich möchte, dass du es erfährst, kein bisschen mehr. Es handelt sich um mein Leben«, sagte ich und zeigte mit dem Finger auf mich. »Und es ist meine Entscheidung, was ich darüber erzähle.« Ich hielt inne, um nach Luft zu schnappen. »Und da wir schon einmal dabei sind, was hast du mir denn über deine Kindheit erzählt?«
Gradens Miene war nun versteinert. »Ich hätte dir alles erzählt, was du hättest wissen mögen. Du hättest nur fragen müssen.«
»Hab ich aber nicht. Ich habe dir Zeit und Raum gegeben, um mir freiwillig etwas zu erzählen – wann immer du es für richtig hältst. Und ganz bestimmt habe ich nicht hinter deinem Rücken herumgeschnüffelt.«
»Ich habe nicht herumgeschnüffelt, ich habe nur …« Seine Stimme brach, und er verfiel in Schweigen. Er atmete tief durch und blickte zu Boden. Ich wartete, bis er mir wieder in die Augen sah.
»Ich habe es nur gut gemeint, Rachel«, sagte er. Seine Stimme klang nun ruhig und fast entschuldigend. »Jetzt sehe ich, dass es ein Fehler war, aber ich wollte einfach mehr über dich wissen. Dein Vorstrafenregister habe ich übrigens nicht abgefragt.« Das Lächeln, mit dem er das gesagt hatte, erstarb, als ich nicht darauf ansprang. »Ich war nur auf Google.« Wieder
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