Tödlicher Ausweg: Thriller (German Edition)
glaubte. Meine Eltern mussten mich allerdings auch nicht daran erinnern, dass ich Glück hatte, eine Schwester wie Romy zu haben.
Unser Häuschen in Sebastopol, nördlich von San Francisco, stand am äußersten Rand einer vergleichsweise neuen Siedlung einfallsloser Ranch-Häuser des immer gleichen Typs: drei Modelle, die sich in den zehn Blocks ständig wiederholten. So jung ich war, hatte ich dennoch ein Gefühl dafür, dass wir nicht gerade in Geld schwammen. Der Beruf meiner Mutter als Kassiererin brachte nicht viel ein, und mein Vater, der für eine gewisse Zeit bei der Army gewesen war, absolvierte sein erstes Collegejahr und erfüllte sich seinen Traum, Pilot zu werden. In unserer Siedlung wohnten allerdings vorwiegend junge Familien, die versuchten, ein Bein auf die Erde zu bekommen, und so fühlten wir uns nie wirklich arm.
Für uns war es eher das Paradies. Jeden Tag strömten zu jeder Zeit des Tages irgendwelche Kinder aus den Häusern, weil sie von ihren überarbeiteten, ruhebedürftigen Müttern rausgeschmissen worden waren. Und auch Platz zum Spielen gab es reichlich, da die Siedlung mitten in weitläufige Felder und Wälder gesetzt worden war. Die paradiesische Wildnis war also nur ein paar Schritte entfernt.
Die größte Anziehungskraft übte das alte, verlassene Haus aus, das auf einer Lichtung mitten im Wald stand. An der verfallenen Hütte mit ihren leeren Fenstern, die wie düstere Augen in den Wald starrten, entzündete sich die Fantasie sämtlicher Kinder. Es hieß, dass die Besitzer ermordet und/oder von Aliens entführt worden seien … Oder hatte man sie eingesperrt, weil sie Kinder umgebracht, gehäutet und aufgefressen hatten? Kinder genau unseres Alters …
Mich hatte dieses Haus nie interessiert. Für mich lag das reizvollste Ziel eine halbe Meile weiter weg, eine alles andere als geheimnisumwitterte Hühnerfarm, die nur Federn, Gestank und ewiges Gegacker zu bieten hatte. Dort gab es Pferde, die ich wie alle kleinen Mädchen natürlich liebte, außerdem Schweine, Kühe und einen finster dreinschauenden Bullen. Der Besitzer der Farm ließ mich manchmal die alte Mähre reiten, deren Stirnhaar wie der überlange Pony eines Teenagers aussah. Mein heimlicher Wunsch war es aber, den Bullen zu reiten – wobei ich allerdings klug genug war, das für mich zu behalten.
Am Morgen meines siebten Geburtstags dämmerte es früh, und um zehn brannte die Augustsonne bereits. Ich war in freudiger Erwartung erwacht. Romy hatte gesagt, dass ihr Geburtstagsgeschenk darin bestehe, den ganzen Tag über alles zu machen, was ich von ihr verlangte. Ich hatte lange darüber nachgedacht und eine Liste der Dinge zusammengestellt, die man ihr normalerweise nur schwerlich abringen konnte: Seilspringen mit einem doppelten Seil (wozu sie keine Lust mehr hatte), Monopoly spielen (Romy hasste Brettspiele), Verstecken spielen (fand sie töricht) und zur Hühnerfarm gehen.
Ich wusste, dass die Besitzer der Hühnerfarm im Urlaub waren und die Leute, die die Tiere versorgten, nachmittags verschwanden. Das war die Gelegenheit, mir meinen Traum zu erfüllen und diesen Bullen zu reiten. Ich wollte es unbedingt tun, wenn Romy dabei war, damit jemand meinen Triumph bezeugen könnte. Dass ich Romy auch für den Fall dabeihaben wollte, dass der Bulle mit meinen Plänen nicht einverstanden war und irgendjemand mich retten müsste, gestand ich mir nicht ein. Natürlich behielt ich diesen Punkt meiner Wunschliste für mich, da Romy sicher versuchen würde, mich davon abzuhalten. Ich dachte mir also einen Trick aus, wie ich sie unauffällig mit einbeziehen könnte. Wir würden an der Farm Verstecken spielen, und wenn ich dran war, würde ich dafür sorgen, dass Romy in der Nähe vom Bullenpferch zählte. Ich würde mich zum Pferch schleichen, über die Wand klettern und rechtzeitig rufen, damit Romy noch mitbekommen würde, wie ich das Bein auf den Rücken des Bullen schwang.
Wir begannen den Morgen mit Seilspringen und gingen dann zu Monopoly über. Irgendwie fühlte ich mich ein wenig schuldig wegen dem, was ich vorhatte, und so brach ich die Partie mittendrin ab und erklärte, dass wir meinen Geburtstag etwas eher beenden könnten, wenn wir an der Hühnerfarm Verstecken spielten. Romy nahm das Angebot dankbar an.
Wir liefen über das freie Feld, das unsere kleine Vorstadtgemeinde von der Hühnerfarm und der Wildnis drum herum trennte. Ich ließ Romy den Vortritt beim Verstecken, weil ich mir so das Recht sicherte, die Basis
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