Toedlicher Blick
gesagt hatte. »Hier hat sich Folgendes abgespielt: Der Körper erstreckt sich vom Betrachter weg, und so wirkt der Fuß der Frau in der Relation größer als der Rest des Körpers. Man nennt so was ›perspektivische Verzerrung‹. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, aber ich glaube, dass der Fuß nicht nur perspektivisch verzerrt, sondern auch verformt ist, und zwar auf eine Art, die sich beim Fotografieren mit einem Weitwinkelobjektiv ergibt. Wenn man ein solches Objektiv aus relativ kurzer Distanz einsetzt, erscheinen die Gegenstände am Rand des Fotos unnatürlich breit und groß… Für mich sieht das da eindeutig wie ein fotografierter Fuß aus.«
»Die ermordete Frau hatte sich mit Werbegrafik und Werbedesign beschäftigt – Werbeanzeigen und Inserate und so was«, erklärte Marcy. »Wir dachten, sie könnte den Mörder vielleicht im beruflichen Umfeld kennen gelernt haben.«
»Hmm.« Kidd sah hinunter auf den Stapel der Zeichnungen, schüttelte dann den Kopf. »Ich glaube nicht, dass er Werbegrafiker ist. Wenn er Kunst studiert hat, dann eher die Fachrichtung der ›schönen Künste‹.
»Was ist der Unterschied?«
»Er liegt im Detail. Werbegrafiker lernen, wie man darstellerische Verfahren auf das Wesentliche konzentriert, wie man die Dinge sozusagen in Kurzschrift darstellt – sie werden dafür bezahlt,
erkennbare
Bilder herzustellen, und zwar innerhalb kurzer Zeit. Sie müssen keinen inneren Kampf ausfechten, etwas Einzigartiges hervorzubringen. Diese Zeichnungen sehen aber so aus, als ob der Künstler hart mit sich gerungen hätte, und sie weisen nichts auf, was ein Werbegrafiker aus seiner Trickkiste hätte ziehen können. Wenn er die Nasen nicht richtig hinkriegt, betrügt er nicht, indem er sie generalisiert, sondern kämpft darum, sie
richtig
zu zeichnen.«
»Er ist also tatsächlich ein Künstler.«
»Ja, aber kein besonders guter«, sagte Kidd. »Er kennt die Anatomie des menschlichen Körpers nicht sehr gut. An mehreren Stellen sieht man, dass er von einem Foto abgezeichnet hat.« Er blätterte die Zeichnungen erneut durch, suchte das heraus, bei dem die Frau die Arme über den Kopf gestreckt hatte. »Sehen Sie sich das an: Kein Gefühl für das Schultergelenk. Einfach nur eine Silhouette, wie man sie von einem Foto abzeichnen kann, und selbst die ist nicht gut gelungen.«
Sie gingen noch ein paar Minuten die anderen Zeichnungen durch, und Kidd sortierte zwei mit besonders großen Zehen aus. »Ich wette, sie sind von einem perspektivisch verzerrten Foto abgekupfert …«
Jeff Baxter kam in diesem Moment herein, dicht gefolgt von Morris Ware, der verwirrt auf die Szene starrte. Lucas sah an Kidd vorbei und sagte: »Sie sind hier richtig.«
»Haben Sie das Papier des Bezirksstaatsanwalts gesehen?«, fragte Baxter.
»Noch nicht.«
»Wenn Sie einverstanden sind, will man die Koks-Sache fallen lassen. Morrie sichert Ihnen volle Kooperation zu, was sein Wissen über die lokale Sexszene betrifft – natürlich nur, soweit die Aussagen im laufenden Verfahren für ihn nicht nachteilig sind.«
Lucas nickte. »In Ordnung. Gehen Sie doch in mein Büro, ich bringe zu dem Gespräch noch einen meiner Leute mit.« Er deutete auf die Verbindungstür zu seinem Büro. »Da rein. Ich komme sofort.«
Kidd schlüpfte in seine Jacke, und Lucas sagte: »Danke für Ihr Kommen. Sie haben uns in zehn Minuten mehr über den Killer gesagt als das FBI in zwei Tagen.«
»Wieder einmal nagt man zu Recht am Image des FBI«, sagte Kidd. Und zu Marcy: »Da ich gerade von einer Form der Nahrungsaufnahme gesprochen habe – gibt es hier in der Nähe eine Cafeteria? Ich kenne Minneapolis nicht sehr gut.«
»Ja, aber das Essen dort ist nicht gerade Gourmet-Standard«, antwortete sie.
»Egal – ehe ich den Hungertod sterbe …«
»Ich könnte Ihnen ein besseres Restaurant zeigen«, bot sie an.
Lucas meinte zu sehen, dass sich die Augenlider Kidds um einen Millimeter senkten, als er sagte: »Das wäre sehr schön.«
»Da kommt dieser Typ her, um uns bei der Jagd auf einen Killer zu helfen, und als er nach getaner Arbeit geht, macht er mir mein Personal abspenstig«, klagte Lucas mit einem Blick zur Zimmerdecke.
»Bei
solchem
Personal …«, sagte Kidd.
Auf dem Weg zur Tür fragte Kidd Marcy: »Darf ich später mal Ihre Waffe anfassen?« Lucas schüttelte den Kopf über die lockere Art, in der die jungen Singles heutzutage sexuelle Anspielungen machten, dann rief er Sloan an und bat ihn, zu ihm ins Büro zu
Weitere Kostenlose Bücher