Toedlicher Hinterhalt
wusste verdammt gut, wie das Meer von seiner Veranda aus aussah.
»Wenn ich sterbe«, teilte er Joe grimmig mit, »wird das hier dir gehören. Das Haus, das Grundstück und auch eine halbe Million Dollar. Kelly hatte die Idee – das Testament ist schon aufgesetzt. Aber wenn du mit diesem … Blödsinn … diesem Buch weitermachst –«, seine Stimme bebte leicht, »werde ich meinen letzten Willen noch einmal ändern und du bekommst gar nichts. Gar nichts! «
»Glaubst du wirklich, das sei mir wichtig?«, fragte Joe mit einem ungläubigen Schnauben. »Dein Haus? Dein Geld? Meinst du, das ist es, was ich will?«
Charles merkte, wie Joe ihn ansah, konnte den durchdringenden Blick seines alten Freundes regelrecht spüren und machte den Fehler, aufzuschauen. Joes Gesicht war faltig, die Haut ledrig von vielen Jahren in Sonne und Wind, sein Haar grau und schütter. Nur seine Augen hatten dieselbe haselnussbraune Farbe wie immer. Seine Augen waren die des zwanzigjährigen OSS -Offiziers, den Charles vor einer Ewigkeit getroffen hatte.
»Ich will dein Haus nicht, Charles.«
Damals wie heute war es lächerlich einfach, Joes Gefühle zu erraten, denn man konnte sie ihm ganz deutlich von den Augen ablesen. Sicher, Joe hatte ein Pokerface – wenn er nicht die Fähigkeit besäße, seine Emotionen zu verbergen, hätte er nicht als Spion der Alliierten im von den Nazis besetzten Frankreich überlebt. Aber sobald er unachtsam war, wie so oft, wenn er sich unter Freunden glaubte, verriet sein Blick alles.
Und als er nun von Charles zu der Waffe auf dem Tisch schaute, wusste dieser genau, woran sein alter Freund dachte.
Cybele …
Rank und schlank. Glänzendes braunes Haar, das ihr über die Schultern fiel. Tiefbraune Augen, die Kummer und Schmerz gesehen hatten, mit denen sie einen Mann anzuflehen schien, mit ihr davonzulaufen, zu flüchten, wenn auch nur für einen kurzen Moment, einen Herzschlag lang …
»Das Einzige, was ich je wollte, kannst du mir nicht geben«, erwiderte Joe matt. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte hinaus aufs Meer, aber als Charles dieses Mal zu ihm herüberblickte, wusste er, dass Joe nichts um sich herum wahrnahm. Er schien in fast sechzig Jahre zurückliegende Ereignisse vertieft zu sein, an die er sich lebendiger und deutlicher erinnerte, als an das gestrige Schachspiel in der Hotellobby.
Wer von ihnen war eigentlich als Sieger aus der Partie hervorgegangen? Er selbst hatte keinen blassen Schimmer.
Charles blickte hinunter auf die Walther, und auch er hatte Cybeles schlanke, von der Arbeit raue Hände vor Augen. Er sah sie praktisch direkt vor sich, wie sie die Waffe in eine Tasche ihrer Schürze steckte oder sie in einen kleinen Beutel schob, den sie innen am Bund ihres Rocks trug.
Er konnte Cybeles Augen sehen, ihr tränennasses Gesicht. Cybele, die niemals weinte. Doch dieses eine Mal hatte sie es getan. So, als ob es ihr das Herz bräche.
Ein weiterer Widerstandskämpfer, ein Mann namens Lague, war getötet worden, und die auf seinem Dachboden versteckten jüdischen Kinder hatten die Nazis weggebracht.
Und während Cybele stumm vor sich hin weinte, versuchte Joe, sie zu halten und zu trösten.
»Der Krieg ist bald vorbei«, sagte er zu Cybele, während Charles unbeholfen in der Küche herumstand und nicht wusste, ob er gehen oder bleiben sollte. Er wünschte sich … was?
Sie selbst in den Armen zu halten, so, wie er es am Nachmittag in der Gasse hinter der Bäckerei getan hatte. Er wollte sich erneut in dem berauschenden Gefühl verlieren, ihre Hände zu spüren, ihr Haar und ihr Bein, das um seines geschlungen war. Er wollte ihren Körper gegen seinen gedrückt spüren. Er wollte ihnen beiden all den Schmerz und den Kummer auf die einfachste Weise nehmen. Es lag auf der Hand. Das, was sie in der Gasse empfunden hatten, war trotz der komplizierten Situation und aller Verwirrung gut gewesen. Sehr, sehr gut sogar. Und das, was sie jetzt fühlten, da Cybele auf dem Boden lag und schluchzte, als wäre sie tief verletzt, war schlecht. Mehr
als das. Sie hätten sich Freude bereiten können, oder nicht? Dabei zuzusehen, wie sie weinte, machte jedenfalls definitiv keinen
Spaß.
Aber natürlich konnte es nicht so einfach sein.
»Die Amerikaner sind in Frankreich gelandet«, teilte ihr Joe in dem verzweifelten Versuch mit, ihr Hoffnung zu geben, obwohl es quälend offensichtlich war, dass sie bereits jedes bisschen davon verloren hatte. »Es ist nur eine Frage der Zeit, von
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