Toedlicher Hinterhalt
dabei ebenso um sein Leben, seine Geheimnisse, seine Verfehlungen.
Und seine Trauer.
Seit fast sechzig Jahren lief er vor sich selbst, vor all seinem Schmerz und seinem Kummer davon, und hier saß er nun. War immer noch da. Und es tat nach wie vor weh.
Und Joe machte es nur noch schlimmer, indem er alles Verdrängte wieder aufwühlte.
Charles bemerkte einen Schatten, machte sich jedoch nicht einmal die Mühe, hochzuschauen, sondern putzte einfach weiter die Walther. Entweder war es der Tod, der erneut bedrohlich über ihm aufragte, oder aber Joe. Wer sonst sollte so früh am Morgen wach sein? Auch wenn er sich natürlich nicht hundertprozentig sicher sein konnte, hätte er doch wetten können, dass es sich um Joe handelte.
»Ich bereite sie vor«, erklärte Charles seinem Freund mürrisch. »Dann kann ich auf dich schießen, wenn du wieder davon anfängst, dass du mit diesem verdammten Autor sprechen willst.«
Joe seufzte, setzte sich neben ihn und sah hinaus auf das nahezu unbewegte Meer. Es war herrlich. Von dieser Aussicht hatte Charles in Frankreich geträumt und Cybele so oft erzählt, wobei seine Ausführungen von Joe ins weichere, immer gleich hübsch klingende Französisch übersetzt worden waren.
Die Widerstandskämpferin hatte nach Baldwin’s Bridge kommen wollen, um sein wunderschönes Haus, sein wunderschönes Meer und diesen wunderschönen Ausblick zu bewundern. Wieder und wieder hatte Charles ihnen versprochen, dass er sie alle nach dem Krieg hierherbringen werde.
Nach dem Krieg – diese Worte hatten einen magischen Klang besessen. Nach dem Krieg würden sie alle – sogar Jean-Claude,
Henri und die beiden Lucs – als Gäste von Charles nach Ame-
rika reisen. Der Soldat besaß genug Geld, um das zu bewerkstelligen. Nach dem Krieg würde er sie nach Boston einfliegen lassen und sie alle im Baldwin’s Bridge Hotel unterbrin-
gen …
»Wir haben Tom versprochen, uns nicht mehr zu streiten«, erinnerte Joe ihn.
»Wer zur Hölle streitet denn hier?«, entgegnete Charles. »Ich bedrohe dich doch nur mit einer Waffe.«
»Möchtest du jetzt vielleicht darüber sprechen?«, fragte Joe. »Das können wir gerne tun. Aber wir reden nur, und schreien uns nicht etwa an. Wenn du anfängst herumzubrüllen, werde ich aufstehen und gehen.«
»Gut.«
»Gut.« Joe atmete einmal tief durch. »Dann sollst du auch wissen, dass ich gestern Abend einen Anruf bekommen habe«, sagte er. »Kurt Hoffman – der Autor – hat vorgeschlagen, mich am Dienstag gleich nach der Eröffnungszeremonie im Hotel zu interviewen. Und da ich es machen möchte, habe ich zugesagt – dass ich dort sein werde.«
Die Walther rutschte Charles aus den Händen und fiel klappernd auf den Tisch. Bei dem Versuch, sie aufzufangen, tat er sich an den Fingern weh. Verdammt!
»Ich hatte gehofft, du würdest vielleicht mit mir kommen. Du könntest mir dabei helfen, die ganze Geschichte zu erzählen«, fuhr Joe fort.
»Was?!«, fragte Charles angespannt. »Dass ich nicht nur meine Frau, sondern auch meinen besten Freund betrogen habe?«
Joe schaute einfach nur auf das im Sonnenlicht glitzernde Meer, auf die aufgetürmten Steine, die als Wellenbrecher dienten, und auf das noch immer leuchtende Grün der Bäume am Rand des üppigen Gartens.
Charles brauchte nicht hochzublicken, um zu wissen, was Joe gerade sah. Er hatte selbst fast sechzig Sommer damit verbracht, die Szenerie zu genießen, dabei seine Gin Tonics zu trinken und zu warten, bis der Ozean in der Ferne verschwamm oder aber die Sonne unterging, was von beidem eben zuerst geschah.
»Ich habe dir das schon lange verziehen«, erwiderte Joe leise. »Und auch Cybele. Nicht, dass ich das Recht dazu hätte – sie gehörte mir ja nicht, Ashton. Höchstens in meiner Vorstellung. Das weißt du ebenso gut wie ich.«
Cybele …
Charles brachte keinen Ton heraus. All die Jahre über hatte er es vermieden, ihren Namen zu erwähnen, wie schaffte es Joe also, so leicht und gelassen von ihr zu reden? Und ausgerechnet auch noch vor Charles. Er selbst konnte noch nicht einmal an sie denken, ohne dass es ihm die Kehle zuschnürte.
Auch wenn er nun hier saß und ihre kostbare Waffe putzte. Joe musste sie wiedererkennen. Cybele hatte das Haus nie ohne sie verlassen.
»Weißt du, ich bekomme es nie über, hier draußen zu sitzen«, sinnierte Joe. »In diesem Punkt hattest du immer recht – das hier ist einer der schönsten Orte auf der Welt.«
Charles schaute nicht von der Walther hoch. Er
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