Tödlicher Irrtum
habe, wie leicht zu sehen, keineswegs der Gerechtigkeit zum Sieg verholfen. Der Schuldige ist keineswegs gefunden und seiner – gerechten – Strafe zugeführt worden, und der Schatten der Schuld ist nicht von den Unschuldigen genommen.«
»Ich finde, Sie steigern sich etwas zu sehr in diese Sache hinein, Dr. Calgary«, versuchte Marshall ihn zu beruhigen. »Gewiss, was Sie sagen, entbehrt nicht einer gewissen Grundlage, aber ich sehe, ehrlich gestanden, nicht, was Sie dabei tun könnten.«
»Da haben Sie völlig Recht«, gab Calgary freimütig zu. »Aber ich muss es wenigstens probieren. Und aus diesem Grund bin ich auch zu Ihnen gekommen, Mr Marshall. Ich wollte Sie bitten, mir die Vorgeschichte zu erzählen.«
»Das will ich gern tun, sie ist durchaus kein Geheimnis«, entgegnete Marshall in etwas ermutigenderem Ton. »Ich kann Sie mit allen Tatsachen vertraut machen, die Sie zu wissen wünschen. Darüber hinaus vermag ich Ihnen jedoch nicht viel zu sagen, da ich mit keinem Familienmitglied persönlich befreundet war. Ich war lediglich der langjährige Rechtsberater von Mrs Jackson, die ich recht gut kannte; auch Mr Jackson war mir bekannt. Dagegen konnte ich mir über die Atmosphäre im Sonneneck kein eigenes Urteil bilden. Temperament und Charakter der übrigen Hausbewohner sind mir nur aus zweiter Hand bekannt – aus Mrs Jacksons Schilderungen.«
»Ich verstehe, aber ich muss irgendwo einen Anfang machen«, sagte Calgary. »Stimmt es, dass alle fünf Kinder adoptiert worden sind?«
»Ja, das stimmt. Mrs Rachel Jackson war eine geborene Konstam, die einzige Tochter des schwerreichen Mr Rudolph Konstam. Ihre Mutter, eine Amerikanerin, war ebenfalls eine sehr reiche Frau. Rudolph Konstam war als Philanthrop bekannt, und seine Tochter interessierte sich seit ihrer frühesten Jugend für seine wohltätigen Stiftungen. Er und seine Frau kamen bei einem Flugzeugunglück ums Leben; Rachel verwendete das große Vermögen, das sie daraufhin erbte, hauptsächlich dazu, die philanthropischen Unternehmungen ihres Vaters fortzuführen. Sie arbeitete sogar selbst in einigen der Heime, und bei dieser Gelegenheit lernte sie Leo Jackson kennen, der damals Dozent in Oxford war und sich besonders für soziale Reformen einsetzte.
Die große Tragödie in Mrs Jacksons Leben war, dass sie keine Kinder haben konnte. Nachdem ihr von mehreren berühmten Spezialisten versichert worden war, dass sie niemals Mutter werden würde, entschloss sie sich, ein Kind aus den Slums von New York zu adoptieren – und zwar die jetzige Mrs Durrant. Außerdem betätigte sich Mrs Jackson weiter als Helferin in ihren eigenen Stiftungen – fast ausschließlich in Kinderheimen. Bei Ausbruch des Krieges, im Jahre 1939, gründete sie, mit Genehmigung der Behörden, ein Kriegskinderheim; zu diesem Zweck kaufte sie Haus Sonneneck.«
»Damals Schlangennest genannt«, warf Calgary ein.
»Ja, so hieß es ursprünglich. Soviel ich weiß, und rückblickend, möchte man fast feststellen, dass es der geeignetere Name war. Im Jahre 1940 nahm sie sechzehn Kinder auf, die zum großen Teil aus unglücklichen Verhältnissen kamen oder aus irgendeinem Grund nicht mit den Eltern evakuiert werden konnten. Diese Kinder wurden mit allem erdenklichen Luxus umgeben und derart verwöhnt, dass ich mich veranlasst sah, Mrs Jackson darauf hinzuweisen, wie schwer es den Kindern nach mehreren Kriegsjahren fallen werde, sich wieder an ihre eigenen bescheidenen Verhältnisse zu gewöhnen.
Meine Warnung wurde jedoch nicht beachtet. Mrs Jackson liebte die Kinder von ganzem Herzen, und sie beschloss, die Waisen und die Kinder, die aus einem besonders ärmlichen Heim stammten, zu adoptieren. So entstand ihre fünfköpfige Familie: Mary, die jetzt mit Philip Durrant verheiratet ist. Michael, der eine Stellung in Drymouth hat, Tina, ein Mischlingskind, Hester und natürlich Clark.
Die heranwachsenden Kinder betrachteten die Jacksons als ihre Eltern. Sie wurden in die besten Schulen geschickt, und sie genossen alle Vorteile, die eine gute Erziehung und eine harmonische Umgebung für eine positive Entwicklung mit sich bringen. Clark war von Anfang an schwierig. Er wurde relegiert, nachdem er in der Schule Geld gestohlen hatte; und später, auf der Universität, passierte das Gleiche. Zweimal wäre er um ein Haar ins Gefängnis gekommen, und er besaß schon immer ein zügelloses Temperament. Die Jacksons kamen zweimal für Unterschlagungen auf, die er begangen hatte, und zweimal
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