Tödlicher Irrtum
war fest verschlossen, ebenso die Fensterläden. Falls jemand von draußen hereingekommen wäre, hätte er im Besitz eines Schlüssels sein müssen – es sei denn, Mrs Jackson ließe ihn selbst herein. Der Täter muss jemand gewesen sein, den sie kannte. Sie werden nun vielleicht verstehen, warum die Familie eher betreten als erfreut reagiert hat, als Sie ihr diese Nachricht brachten.«
»Sie meinen, es wäre ihnen lieber gewesen, dass Clark Jackson schuldig war?«, fragte Calgary nach einer längeren Pause.
»Ja, zweifellos«, erwiderte Marshall. »Es mag zynisch klingen – aber Clark Jacksons Schuld war für die Familie die ideale Lösung. Er war stets ein schwieriges Kind gewesen, dann ein jugendlicher Krimineller, ein Mann mit einem zügellosen Temperament. Die Familie entschuldigte seine Tat sich und anderen gegenüber mit der Begründung, dass er ein pathologischer Fall war – ja, es war eine sehr einleuchtende Erklärung.«
»Und jetzt…« Calgary hielt inne.
»Jetzt stehen sie einer völlig veränderten und vielleicht sogar alarmierenden Sachlage gegenüber«, stellte Marshall fest.
»Wenn ich mich nicht irre, war auch Ihnen mein Erscheinen eher peinlich, nicht wahr?«, fragte Calgary scharf.
»Ich gebe zu, dass ich unangenehm überrascht war. Ein Fall, der zufrieden stellend abgeschlossen worden war – ja, ich wiederhole: ›zufrieden stellend‹ –, wird nun wieder aufgenommen.«
»Ist das offiziell?«, fragte Calgary. »Wird die Polizei den Fall wieder aufnehmen?«
»Zweifellos«, erwiderte Marshall. »Die Polizei betrachtete den Fall als abgeschlossen, nachdem Clark Jackson im Prozess für schuldig befunden worden war. Die Geschworenen waren schon nach vierzehn Minuten zu ihrem einhelligen Urteil gelangt. Aber da er jetzt, nach seinem Tod, rehabilitiert werden soll, muss das Ganze selbstverständlich wieder aufgerollt werden.«
»Wird die Polizei neue Untersuchungen anstellen?«
»Das erscheint mir unvermeidlich«, meinte Marshall. »Ob die Untersuchungen allerdings nach dieser langen Zeit und in diesem besonderen Fall irgendwelche Ergebnisse zeitigen werden, ist mehr als fraglich. Sie mögen vermuten, dass jemand im Haus schuldig ist, sie mögen eine bestimmte Person in Verdacht haben, aber es wird ihnen schwer fallen, ihren Verdacht zu erhärten.«
»Ja – ja, jetzt verstehe ich endlich, was sie meinte«, sagte Calgary nachdenklich.
»Von wem sprechen Sie?«, fragte der Anwalt.
»Von Hester Jackson.«
»Von Hester? Was hat sie gesagt?«, fragte Marshall neugierig.
»Sie erwähnte die Unschuldigen«, erwiderte Calgary. »Sie sagte, es käme nicht auf die Schuldigen an, sondern auf die Unschuldigen. Jetzt weiß ich, was sie meinte – dass nun wieder die ganze Familie unter Verdacht steht, und…«
Marshall unterbrach ihn.
»Von ›wieder‹ kann gar keine Rede sein. Die Familie hat niemals unter Verdacht gestanden, weil man sofort annahm, dass Clark Jackson der Täter sei.«
»Jedenfalls ist es unvermeidlich, dass die Familie jetzt verdächtigt wird«, antwortete Calgary ungeduldig. »Ein Mitglied der Familie mag schuldig sein, aber die anderen wissen nicht, welches. Sie werden sich gegenseitig ansehen und sich fragen… ja, das ist am schlimmsten… dieses gegenseitige Misstrauen.«
Schweigen. Marshall betrachtete Calgary mit einem ruhigen, aufmerksamen Blick, sagte jedoch kein Wort.
»Es ist schrecklich, verstehen Sie …«, versuchte Calgary erneut, in Worte zu fassen, was ihn bewegte.
Sein schmales, ausdrucksstarkes Gesicht spiegelte deutlich den Aufruhr seiner Gefühle wider.
»Ja, es ist schrecklich… Jahr für Jahr miteinander – nebeneinander – zu leben, einander anzuschauen, zu belauern… Alles wird zerstört, Liebe, Vertrauen…«
Marshall räusperte sich.
»Lassen Sie Ihrer Phantasie da nicht etwas zu freien Lauf?«
»Nein«, Calgary schüttelte den Kopf, »das glaube ich nicht. Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel, Mr Marshall, aber ich sehe diese Dinge vielleicht klarer als Sie. Ich kann mir eben vorstellen, was es bedeutet…«
Erneutes Schweigen.
»Es bedeutet«, fuhr Calgary nach längerer Pause endlich fort, »dass die Unschuldigen leiden… und das darf nicht geschehen. Nur einer ist schuldig. Und darum – darum kann ich nicht so tun, als ginge mich das alles gar nichts an. Ich kann nicht einfach wieder abreisen und mir sagen: ›Du hast das Richtige getan, du hast deine Pflicht getan – du hast der Sache der Gerechtigkeit gedient.‹ Denn ich
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