Tödlicher Irrtum
sie an einem kleinen Tisch, und eine Kellnerin nahm ihre Bestellung mit gelangweilter Miene entgegen.
»Ich möchte Ihnen erklären, warum ich Sie aufgesucht habe«, sagte Calgary. »Ich habe alle Mitglieder Ihrer Familie kennengelernt, bis auf Ihre verheiratete Schwester. Auch mit der Frau Ihres Bruders Clark – oder vielmehr mit seiner Witwe – habe ich bereits gesprochen.«
»Sie hielten es also für nötig, uns alle persönlich kennen zu lernen?«
»Ich kann Ihnen versichern, dass es nicht aus Neugier geschah«, bemerkte er trocken. »Ich hielt es lediglich für meine Pflicht, Ihnen allen mein tiefstes Bedauern darüber auszusprechen, dass es mir nicht möglich war, die Unschuld Ihres Bruders beim Prozess zu beweisen.«
»Ich verstehe…«
»Haben Sie ihn geliebt?«
»Nein, geliebt habe ich Clark nicht«, erwiderte sie nach kurzem Überlegen.
»Ich höre von allen Seiten, dass er viel Charme besaß.«
»Das stimmt, aber ich traute ihm nicht über den Weg, und ich konnte ihn nicht leiden.«
»Verzeihen Sie die Frage: Sie zweifelten nicht daran, dass er der Mörder Ihrer Mutter war?«
»Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, dass es eine andere Erklärung geben könnte.«
Die Kellnerin brachte den Tee, der schwach und nicht sehr heiß war. Das Gebäck war trocken, die Brötchen altbacken.
Calgary trank einen Schluck, dann sagte er:
»Man hat mir angedeutet, dass meine Informationen, aus denen hervorgeht, dass Ihr Bruder unschuldig war, für Sie alle unangenehme Folgen haben könnten…«
»Weil der Fall wieder aufgenommen werden wird?«
»Ja – darüber haben Sie also schon nachgedacht?«
»Mein Vater hält es für unvermeidlich.«
»Es tut mir schrecklich Leid…«
»Warum tut es Ihnen Leid, Dr. Calgary?«
»Weil es mir sehr unangenehm ist, neue Unruhe in ihrer aller Leben zu tragen.«
»Hätten Sie es über sich bringen können zu schweigen?«
»Nein.«
»Sie halten Gerechtigkeit für wichtiger als alles andere?«
»Ja – obwohl ich mich jetzt doch frage, ob es nicht noch wichtigere Dinge gibt.«
»Zum Beispiel?«
Er dachte an Hester.
»Unschuld – vielleicht.«
Ihre Augen wurden noch undurchsichtiger.
»Woran denken Sie, Miss Jackson?«
»Ich denke an die Worte der Magna Charta: Wir wollen einem jeden Gerechtigkeit widerfahren lassen.«
»Ich verstehe, Miss Jackson«, sagte er.
7
D r. MacMaster war ein alter Mann mit buschigen Augenbrauen, klugen grauen Augen und einem trotzigen Kinn. Er lehnte sich in einem schäbigen Lehnstuhl zurück und betrachtete seinen Besucher eingehend – er gefiel ihm.
Auch Calgary fand den Arzt sympathisch, und er hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit seiner Rückkehr nach England auf volles Verständnis zu stoßen.
»Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mich zu empfangen, Herr Doktor«, sagte er.
»Durchaus nicht«, erwiderte Dr. MacMaster. »Seit ich meine Praxis aufgegeben habe, langweile ich mich unsäglich; meine jüngeren Kollegen haben leider darauf bestanden, dass ich auf mein schwaches Herz Rücksicht nehme, und ich habe mich unter Protest schließlich ihren Wünschen gefügt. Sie brauchen sich also nicht zu entschuldigen, weil Sie meine Zeit in Anspruch nehmen. Aber darf ich wissen, warum genau Sie zu mir gekommen sind?«
»Zuerst einmal«, begann Calgary, »möchte ich Ihnen erklären – oder wenigstens zu erklären versuchen –, warum mich die ganze Sache noch immer beschäftigt. Logisch wäre es doch so: Ich habe erledigt, weshalb ich hergekommen war, habe meine Geschichte von Gehirnerschütterung und Gedächtnisverlust getreulich berichtet und den unschuldig Verurteilten vom Makel der Tat befreit – und sollte jetzt eigentlich ruhigen Gewissens wieder abfahren und versuchen, die ganze unerfreuliche Begebenheit so rasch wie möglich zu vergessen. Das wäre doch gesund und normal – nicht?«
»Kommt darauf an«, meinte Dr. MacMaster. »Irgendetwas hat Sie irritiert?«
»Genau«, erwiderte Calgary. »Alles Mögliche hat mich irritiert. Meine Eröffnungen wurden nicht so aufgenommen, wie ich es erwartet hatte – Sie verstehen?«
»O ja, sehr gut sogar«, antwortete Dr. MacMaster. »Daran ist nichts Ungewöhnliches. So was passiert jeden Tag. Wir stellen uns etwas ganz genau vor, egal was es ist – die Konsultation eines Kollegen, das Vorbringen eines Heiratsantrags, ein ernstes Gespräch mit dem Sohn über dessen Schulprobleme –, und wenn’s dann soweit ist, läuft alles anders als gedacht. Und obwohl einem so was
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