Tödlicher Irrtum
immer wieder passiert, ist man jedes Mal von neuem völlig konsterniert – verwirrt. Die Antworten fallen nie so aus wie erwartet. Darum geht’s doch, nicht wahr?«
»So ist es«, bestätigte Calgary.
»Was haben Sie denn erwartet?«
»Ich«, Calgary stockte einen Moment, »Vorwürfe? Vielleicht. Anklagen? Gut möglich. Aber auch Dankbarkeit.«
MacMaster brummte.
»Hm – und da war keine Dankbarkeit, was? Und keine Vorwürfe, jedenfalls nicht von der Art, mit der Sie gerechnet hatten?«
»Sie haben es getroffen«, gestand Calgary.
»Kein Wunder – schließlich kannten Sie die Hintergründe nicht, als Sie dort plötzlich auftauchten. Sind Sie deshalb zu mir gekommen?«
»Ja, ich möchte mit Ihrer Hilfe versuchen, die Familie Jackson besser zu verstehen«, erklärte Calgary. »Ich bin nur mit dem äußeren Rahmen vertraut: Eine gute, selbstlose Frau mit einwandfreiem Charakter, die ihre Adoptivkinder mit Liebe und Wohlstand umgibt – auf der anderen Seite ein junger Mensch, der bereits als Kind schwierig war. Weiter ist mir nichts bekannt, und ich weiß so gut wie nichts über Mrs Jacksons Persönlichkeit.«
»Sie haben ganz Recht, das ist der springende Punkt, denn es ist genau genommen das Interessanteste an jedem Mord, herauszufinden, was für ein Mensch das Opfer war. Die meisten Leute bemühen sich nur, den Charakter des Täters zu ergründen. Sie sind wahrscheinlich zu dem Schluss gekommen, dass Mrs Jackson ihr furchtbares Ende nicht verdient hat?«
»Ich nehme an, dass man allgemein dieser Ansicht ist.«
»Selbstverständlich, und vom ethischen Standpunkt aus gesehen mit vollem Recht.«
Dr. MacMaster rieb sich nachdenklich die Nase.
»Wussten Sie, dass die Chinesen Wohltätigkeit nicht für eine Tugend, sondern vielmehr für eine Sünde halten? Und es ist etwas Wahres dran. Der Wohltäter hat das erhebende Gefühl, seinen Mitmenschen zu helfen, aber der Empfänger der Wohltaten ist dem Geber oft nicht sehr zugetan, obwohl er ihm von Rechts wegen dankbar sein sollte. Mrs Jackson war eine wundervolle Mutter, aber sie hat Mutterliebe und Fürsorge wohl übertrieben.«
»Es waren halt nicht ihre eigenen Kinder«, meinte Calgary nachdenklich.
»Das ist es ja eben«, erwiderte MacMaster. »Ich kannte viele Frauen mit einem ausgeprägten Mutterinstinkt, die erst dann glücklich waren, wenn sie Kinder bekamen. Aber nach einiger Zeit begannen sie, sich wieder für ihren Mann, ihre Freunde und die Ereignisse der Welt zu interessieren, denn ihr Mutterinstinkt war befriedigt.
Mrs Jackson war diese ›natürliche‹ Befriedigung jedoch versagt – es war ihr nicht beschieden, eigene Kinder zu haben. So konzentrierte sie sich ausschließlich auf ihre Adoptivkinder. Tag und Nacht dachte sie nur an sie, selbst ihr Mann spielte nur noch eine untergeordnete Rolle in ihrem Leben. Die Kinder wurden viel zu sehr verwöhnt und verzärtelt, und nichts war gut genug für sie. Alles drehte sich um die Kinder – ihre Gefühle, ihre Kleidung, ihre Spiele, ihre Ausbildung. Aber das, was die Kinder am meisten gebraucht hätten, gab sie ihnen nicht: Ein bisschen Freiraum, eine gesunde ›Vernachlässigung‹, um überhaupt atmen zu können.
Sie durften nicht etwa einfach nach draußen in den Garten zum Spielen gehen wie die Kinder sonst hier auf dem Land. Nein, da gab es jede Menge sinnreicher Konstruktionen wie künstliche Kletterbäume und Steinpyramiden, ein Baumhaus und sogar einen kleinen Privatstrand am Fluss, für den der Sand eigens hergekarrt wurde.
Auch für ihre Ernährung war das normale Alltagsessen nicht gut genug – das Gemüse wurde püriert, bis sie fünf Jahre alt waren, die Milch sterilisiert, das Wasser ständig überprüft und ihre Vitaminzufuhr überwacht.
Mrs Jackson selbst war nicht meine Patientin, sie besuchte einen Spezialisten in London – allerdings nicht oft, denn sie war eine kerngesunde, robuste Frau. Ich wurde nur geholt, wenn eins der Kinder nicht ganz in Ordnung war, obwohl Mrs Jackson oft behauptete, ich nähme deren kleine Erkrankungen nicht ernst genug. Sie war außer sich, wenn ich ihr riet, die Kinder etwas weniger zu verwöhnen, leichte Temperaturerhöhungen nicht weiter zu beachten, sich nicht aufzuregen, wenn eins der Kinder mal mit nassen Füßen nach Hause kam. Ihre Überängstlichkeit war bestimmt nicht gut für die Kinder.«
»Vor allem nicht für Clark, nicht wahr?« fragte Arthur Calgary.
»Ich dachte nicht nur an Clark, obwohl er von Anfang an ein Problem für die
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