Tödlicher Irrtum
sie ihm nicht.
»Was wollen Sie denn dann?«
Hinter ihr, im Hausflur tauchte ein anderes Gesicht auf – das reizlose, schlichte, von graublondem Kraushaar umrahmte Gesicht einer Frau in mittleren Jahren. Die Frau schien wie ein Drache über dem jungen Mädchen zu wachen.
»Es betrifft Ihren Bruder, Miss Jackson.«
Hester Jackson hielt den Atem an, dann sagte sie mit tonloser Stimme: »Michael?«
»Nein, Ihren Bruder Clark.«
»Ich hab doch gewusst, dass Sie Clarks wegen kommen«, rief sie erregt. »Warum lassen Sie uns nicht in Frieden? Das alles ist längst vorbei und erledigt. Warum muss es wieder und wieder aufgerührt werden?«
»Man kann niemals sagen, dass etwas endgültig erledigt ist.«
»Aber es ist erledigt! Clark ist tot. Es ist alles vorbei. Wenn Sie kein Journalist sind, müssen Sie Arzt sein – ein Psychologe oder so etwas. Bitte, gehen Sie, ich kann meinen Vater jetzt nicht stören. Er ist beschäftigt.«
Bevor sie die Tür schließen konnte, zog Calgary schnell den Brief aus der Tasche und drückte ihn ihr in die Hand.
»Hier ist ein Brief von Mr Marshall.«
Sie betrachtete den Umschlag nachdenklich, dann sagte sie unsicher: »Von Mr Marshall aus London?«
Jetzt näherte sich auch die ältere Frau, die bisher im Hintergrund der Diele geblieben war. Sie musterte Calgary feindselig; er dachte plötzlich an einen Besuch im Kloster – ja, sie erinnerte ihn an eine Nonne, an die Schwester hinter dem kleinen Gitter, der man erst genau Auskunft über die eigene Person und den Zweck des Kommens geben musste, bevor man die Vorhalle des Klosters betreten durfte.
»Sie kommen von Mr Marshall?« fragte sie streng.
Hester starrte auf den Briefumschlag, dann eilte sie die Treppe hinauf.
Calgary blieb bei der Haustür stehen; der klösterliche Drache ließ ihn nicht aus den Augen.
Er versuchte krampfhaft, Konversation zu machen, aber es fiel ihm nichts ein.
Hesters klare Stimme unterbrach das Schweigen.
»Vater bittet Sie heraufzukommen.«
Seine Wächterin trat unwillig einen Schritt zur Seite. Sie blieb nach wie vor misstrauisch. Er legte seinen Hut auf einen Stuhl und ging die Treppe hinauf. Hester erwartete ihn am Treppenabsatz.
Das Innere des Hauses machte einen fast übertrieben sauberen Eindruck, es wirkte beinahe wie eine Privatklinik.
Hester führte ihn über einen Korridor; sie ging drei Stufen hinunter, öffnete eine Tür und bedeutete ihm, ihr in das Zimmer zu folgen.
Es war eine Bibliothek, und Calgary sah sich entzückt um. Die Atmosphäre dieses Raumes war anders, als er erwartet hatte, anders als der Rest des Hauses. In diesem Zimmer lebte ein Mensch, arbeitete, entspannte sich. Die mit Büchern gefüllten Regale reichten bis zur Decke, die Sessel waren schäbig, aber bequem. Der Schreibtisch war mit Briefen und Dokumenten aller Art bedeckt, auf kleinen Tischen lagen Bücher und Zeitungen. Er hatte eben noch Zeit, einen Blick auf eine sehr reizvolle junge Dame zu werfen, die das Zimmer verließ, während er es betrat. Dann richtete sich seine Aufmerksamkeit auf den Mann, der aufstand und ihn mit dem geöffneten Brief in der Hand begrüßte.
Leo Jackson wirkte auf den ersten Blick wie der Schatten eines Mannes – zart, bleich, beinahe durchsichtig. Seine Stimme war weich und sympathisch.
»Dr. Calgary?« sagte er. »Bitte nehmen Sie Platz.«
Calgary setzte sich und nahm dankend die ihm angebotene Zigarette. Jackson ließ sich ihm gegenüber nieder. Alle seine Bewegungen waren sehr langsam. Calgary hatte das Gefühl, in einer Welt zu sein, in der Zeit keine Rolle spielte. Leo Jackson lächelte sanft und klopfte mit einem Finger auf den Brief; dann begann er zu sprechen.
»Mr Marshall schreibt, dass Sie uns etwas Wichtiges mitzuteilen haben, er sagt jedoch nicht, um was es sich handelt. Rechtsanwälte vermeiden es immer, sich festzulegen, finden Sie nicht auch?«, sagte er freundlich.
Calgary stellte leicht erstaunt fest, dass der Mann, der ihm gegenübersaß, einen glücklichen Eindruck machte. Es war kein überschäumendes Glück, eher eine stille Zufriedenheit. Hier war ein Mensch, der froh war, nichts mit der Außenwelt zu tun zu haben.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich empfangen haben«, erwiderte Calgary höflich. »Ich hielt es für besser, mit Ihnen zu sprechen, als Ihnen einen Brief zu schreiben.« Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er in plötzlicher Erregung fort: »Es ist schwierig, sehr, sehr schwierig…«
»Bitte nehmen Sie sich Zeit.«
Leo
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