Tödlicher Irrtum
einfach«, erwiderte Micky bitter. »Wenn jemand ermordet worden ist, wird dafür gesorgt, dass man das Opfer nicht vergisst.«
»Ich spreche nicht von Mrs Jackson«, sagte Tina. »Ich spreche von deiner richtigen Mutter.«
»Unsinn, warum sollte ich an sie denken? Ich habe sie seit meinem sechsten Lebensjahr nicht mehr gesehen.«
»Trotzdem denkst du dauernd an sie, Micky.«
»Wie kommst du denn darauf, habe ich jemals darüber gesprochen?«
»Gewisse Dinge fühlt man eben«, erwiderte Tina.
Micky warf ihr einen zärtlichen Blick zu.
»Du bist ein sanftes, liebes Geschöpf, Tina, du erinnerst mich an ein kleines schwarzes Kätzchen. Aber ich glaube, du hast Krallen – man muss sich vorsehen, dich nicht gegen den Strich zu streicheln.«
Er fuhr behutsam über den Ärmel ihres Mantels.
»Du hast Mutter Jackson nicht gehasst, nicht wahr, Tina? Wir anderen haben es getan.«
»Das war sehr unrecht und ganz unverständlich«, erwiderte Tina. »Sie hat uns allen so viel gegeben – ein Zuhause, Liebe und Güte, gutes Essen, Spielzeug – Sicherheit.«
»Ja, ja«, meinte Micky ungeduldig, »ein bisschen Sahne und liebevolle Behandlung, mehr wollte das Kätzchen nicht.«
»Ich war ihr einfach dankbar«, sagte Tina, »im Gegensatz zu euch.«
»Es ist manchmal sehr schwer, dankbar zu sein, wenn man sich dazu verpflichtet fühlt, kannst du das nicht verstehen? Ich wollte diesen Luxus gar nicht. Ich wollte mein eigentliches Zuhause nicht verlassen.«
»Wenn du in London geblieben wärst, hättest du leicht bei einem Luftangriff ums Leben kommen können«, stellte Tina nüchtern fest.
»Ich hätte nichts dagegen gehabt; wenigstens wäre ich zu Hause bei meiner wirklichen Mutter gewesen – womit wir wieder beim Thema wären! Es gibt nichts Schlimmeres, als nirgendwo hinzugehören. Aber dir macht das nichts, Kätzchen, du interessierst dich nur für materielle Dinge.«
»Vielleicht bin ich da eher auf dem richtigen Weg«, meinte Tina nachdenklich. »Vielleicht fühle ich darum auch anders als ihr alle. Ich kenne diese seltsamen Vorbehalte, diese… diese innere Zurückweisung nicht, die ihr Mutter entgegenzubringen scheint – allen voran du, Micky. Es fällt mir, ehrlich gesagt, aber auch leicht, dankbar zu sein. Denn ich wollte ganz gewiss nicht ›ich selbst‹ sein – ich wollte nicht dort bleiben, wo ich war. Ich wollte mir entfliehen, jemand anders sein. Und sie ermöglichte es mir, mein Leben von Grund auf zu ändern – eben ein anderer Mensch zu werden. Sie machte mich zu Christina Jackson, die ein Zuhause hatte – ein schönes, gemütliches Zuhause – und die man liebte. Sicherheit. Geborgenheit. Ich hatte Mutter von Herzen gern, weil sie mir all das geschenkt hatte.«
»Aber deine eigene Mutter – hast du denn nie an sie gedacht?«
»Warum sollte ich? Ich kann mich kaum an sie erinnern. Schließlich war ich erst drei Jahre alt, als ich hierher kam. Ich hatte stets Angst – grenzenlose Angst –, wenn ich bei ihr war. All diese grässlichen Streitereien mit Seeleuten und dann sie selbst – sie war die meiste Zeit betrunken und dementsprechend laut und aggressiv.«
Tina erzählte das alles ein wenig erstaunt – so als komme es ihr zum ersten Mal so richtig zu Bewusstsein.
»Nein, ich denke nicht an sie, hänge keinen Erinnerungen nach. Mrs Jackson war meine Mutter. Dies Haus hier ist mein Heim.«
»Für dich ist alles so leicht, Tina«, seufzte Micky.
»Du machst es dir nur selbst unnötig schwer, Micky! Du hast nicht Mrs Jackson gehasst, sondern deine eigene Mutter… und falls du Mrs Jackson ermordet haben solltest, hast du es nur getan, weil du in Wirklichkeit deine eigene Mutter umbringen wolltest.«
»Wie kannst du nur so etwas sagen, Tina, was fällt dir ein…«
Tina unterbrach ihn, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Bitte lass mich ausreden, Micky! Und jetzt bist du einsam und unglücklich, weil du niemanden hassen kannst. Aber du musst lernen, ohne deinen Hass zu leben, auch wenn es dir schwerfällt.«
»Worauf willst du eigentlich hinaus, Tina, wieso kommst du auf den Gedanken, dass ich sie ermordet haben könnte? Du weißt doch ganz genau, dass ich an jenem Tag eine Probefahrt über die Moor Road nach Minchin Hill gemacht habe.«
»Wirklich?« fragte Tina.
Sie stand auf und ging ein paar Schritte zu dem kleinen Aussichtspunkt, von dem aus man den Fluss überblicken konnte.
Micky folgte ihr. Er fragte: »Was gibt’s da unten zu sehen, Tina?«
»Wer sind die beiden
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