Tödlicher Irrtum
Kirsten ermahnt mich, niemandem zu trauen, nicht einmal ihr… Ich kenne mich einfach nicht mehr aus, ich weiß nicht mehr, woran ich bin, ich weiß nur, dass wir alle furchtbar unglücklich sind.«
»Ja, das kann ich mir gut vorstellen.« Calgary nickte.
»Ich habe manchmal das Gefühl, dass sich das Schuldbewusstsein und das Leiden des Mörders auf uns überträgt. Halten Sie das für möglich?«
»Es ist nicht unmöglich«, stimmte Calgary zögernd zu, »und doch möchte ich bezweifeln, dass ein Mörder wirklich leidet.«
»Warum sollte er nicht? Ist es nicht grauenhaft zu wissen, dass man einen Menschen getötet hat?«
»Es gibt zwei Arten von Mördern«, meinte Calgary, »den kaltblütigen Verbrecher, der sich sagt: ›Leider ist mir nichts anderes übrig geblieben, als zu töten, aber schließlich war es nicht meine Schuld‹, und den anderen, der seine Gewissensqualen auf die Dauer nicht ertragen kann, der entweder gestehen muss oder versucht, seinem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, Hester?«
»Ja, ich denke gerade darüber nach«, erwiderte sie mit gerunzelter Stirn.
»Ich bitte Sie, sich zu konzentrieren, Hester, scharf nachzudenken, denn wenn ich Ihnen helfen soll, muss ich die Dinge mit Ihren Augen sehen.«
»Micky hat Mutter immer gehasst, warum, weiß ich nicht«, sagte Hester langsam. »Tina hat sie, glaube ich, geliebt. Gwenda konnte sie nicht leiden. Kirsten hat sich immer auf Mutters Seite gestellt, selbst wenn sie manchmal nicht ihrer Meinung war. Vater…« Sie machte eine lange Pause.
»Ja?« fragte Calgary.
»Vater hat sich sehr verändert. Nach Mutters Tod war er plötzlich nicht mehr so still und verschlossen. Er wurde lebhafter und zugänglicher. Aber jetzt ist das wieder vorbei, und er hat sich wie eine Schnecke in sein Haus verkrochen. Ich weiß nicht, wie er wirklich zu Mutter stand, ich nehme an, dass er sie liebte, als sie heirateten. Sie haben sich nie gestritten, aber über ihre wahren Gefühle war ich mir nie im Klaren. Was wissen wir denn schon voneinander? Was wissen wir, was hinter den ruhigen, alltäglichen Gesichtern vor sich geht? Wie furchtbar, dass man das alles nicht weiß, wie furchtbar, wie furchtbar!«
Er ergriff ihre Hände.
»Sie sind kein Kind mehr, nur Kinder fürchten sich. Sie sind eine Frau, Hester!«
Er ließ ihre Hände los und sagte ruhig: »Wo werden Sie in London übernachten?«
Hester sah ihn etwas erstaunt an. »Übernachten? – Mutter hat immer im Hotel Curtis gewohnt.«
»Ein sehr angenehmes, ruhiges Hotel. Ich würde Ihnen vorschlagen, sich dort ein Zimmer zu nehmen.«
»Ich tue alles, was Sie mir sagen«, sagte Hester mit leiser Stimme.
»Gut. Wie spät ist es?«, fragte Calgary. Er sah auf die Uhr.
»Tatsächlich schon sieben? Wie wär’s, wenn Sie jetzt ins Hotel gingen und sich ein wenig ausruhten? Ich werde Sie gegen drei viertel acht dort abholen und zum Abendessen ausführen. Wäre Ihnen das recht?«
»Das wäre himmlisch«, erwiderte Hester. »Ist es Ihnen wirklich ernst?«
»Ja, es ist mir ernst«, erwiderte Calgary.
»Aber dann? Was soll als Nächstes geschehen? Ich kann schließlich nicht ewig im Curtis bleiben – nicht?«
»Etwas anderes als ›ewig‹ kommt für Sie wohl nicht in Frage«, lachte Calgary.
»Sie lachen mich aus?«, fragte sie unsicher.
»Nur ein ganz klein wenig«, sagte er und lächelte.
Sie schaute ihn noch einen Moment zweifelnd an, dann entspannte sich ihre Miene und sie lächelte ebenfalls.
»Ich glaube wirklich«, seufzte sie, »ich habe mal wieder zu sehr dramatisiert.«
»Das gehört eben zu Ihnen«, meinte Calgary. »Und ich denke, es steht Ihnen auch…«
»Darum hab ich ja auch gedacht, ich müsste mich auf der Bühne gut machen«, erklärte Hester. »Aber dem war nicht so. Ich war gar nicht gut. Ich war sogar eine ziemlich miserable Schauspielerin.«
»Ihnen bietet das wirkliche Leben so viel Drama, wie Sie sich nur wünschen können, würde ich sagen. Ich rufe Ihnen jetzt ein Taxi, meine Liebe, und Sie fahren ins Curtis – machen sich ein wenig frisch und – da fällt mir ein: Haben Sie überhaupt Gepäck bei sich?«
»Ja – ich habe eine Art Reisetasche mit – so das Nötigste zum übernachten.«
»Na, dann ist ja alles bestens.« Er lächelte sie an.
»Keine Sorge, Hester. Wir werden’s schon schaffen.«
19
» I ch möchte mit Ihnen sprechen, Kirsty«, sagte Philip.
»Ja, gern, Philip.«
Kirsten Lindstrom unterbrach ihre
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