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Tödlicher Irrtum

Tödlicher Irrtum

Titel: Tödlicher Irrtum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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es zu tun, wenn ich vor Wut außer mir war, wenn ich mich missverstanden fühlte. Mutter wirkte immer so ruhig und überlegen, sie wusste alles besser, und sie hat tatsächlich stets Recht behalten. Manchmal dachte ich, ich könnte sie glatt umbringen…«
    Sie sah ihn forschend an. »Wissen Sie, was ich meine? Haben Sie in Ihrer Jugend jemals derartige Gefühle gehabt?«
    In Ihrer Jugend… Calgary zuckte zusammen. Hielt Hester ihn im Vergleich zu sich für einen alten Mann?
    Nun, auch Micky hatte ihn ja, als er sein Hotelzimmer in Drymouth betrat, mit den wenig schmeichelhaften Worten begrüßt: »Sie sehen älter aus!«
    »… in Ihrer Jugend…« Glaubte Hester wirklich, die läge bei ihm schon so lange zurück?
    Er versuchte, sich zu erinnern.
    Er sah sich selbst, im Alter von neun Jahren, wie er zusammen mit einem anderen kleinen Jungen beratschlagte – versteckt hinter einem Busch des Schulgartens –, auf welche Weise man Mr Warborough, dem Klassenlehrer, wohl am besten eins auswischen könnte.
    Er erinnerte sich an seine hilflose Wut angesichts der sarkastischen Kommentare, mit denen Mr Warborough bestimmte Fehlleistungen zu bedenken pflegte.
    Genauso, dachte er, muss Hester sich gefühlt haben.
    Aber was auch immer er und der kleine – wie hieß er noch gleich? – Porch, ja, genau, Porch, so war sein Name, also, was sie beide ausheckten, planten, sich ausmalten, nie rührten sie nur einen Finger, um Mr Warborough in Wirklichkeit auch nur ein Haar zu krümmen.
    »Ich kann Ihre Gefühle begreifen«, sagte er zu Hester, »obwohl Sie sie eigentlich schon vor vielen Jahren überwunden haben sollten.«
    »Leider übte Mutter diese Wirkung auf mich aus, aber jetzt sehe ich ein, dass es meine eigene Schuld war. Ich habe das Gefühl, dass wir die besten Freunde geworden wären, wenn sie etwas länger gelebt hätte. Jetzt wäre ich wahrscheinlich nur zu dankbar für ihren Rat und ihre Hilfe, damals konnte ich es nicht ertragen, weil ich mir unbeholfen und unfähig vorkam und weil ich das Gefühl hatte, nichts Halbes und nichts Ganzes zu sein. Ja, genauso war es, nichts Halbes und nichts Ganzes, nicht Fleisch und nicht Fisch.
    Alles, was ich anfing, ging schief. Ich wusste selbst, dass ich mich auf verrückte Sachen einließ, die ich nur machte, um meinen Kopf durchzusetzen, um mir zu beweisen, dass ich jemand war – ein Individuum, eine eigenständige Persönlichkeit – dass ich ich war. Aber ich war niemand – ich jagte Phantomen nach, bewunderte Leute, an denen nichts zu bewundern war.
    Als ich dann von zu Hause fortlief – verstehen Sie – als ich zur Bühne ging und mit einem der Schauspieler ein Verhältnis hatte, da – «
    »Da haben Sie sich zum ersten Mal selbst gefühlt – jemand anderen gefühlt?«
    »Ja, genauso war es«, bestätigte Hester. »Natürlich weiß ich heute, dass ich mich benommen habe wie ein dummes, ungezogenes Kind. Sie können sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen, Dr. Calgary, wie sehr ich wünsche, dass Mutter noch lebte. Weil – es war so undankbar von mir – so undankbar ihr gegenüber. Sie hat so viel für uns getan und hat uns so viel gegeben. Wir haben ihr wenig, eigentlich nichts, zurückgegeben. Und jetzt ist es zu spät.«
    Sie schwieg.
    »Darum«, fuhr sie nach kurzer Pause mit zitternder Stimme fort, »habe ich beschlossen, endlich erwachsen zu werden. Und Sie werden mir dabei helfen – ja?«
    »Sie wissen, dass ich alles Menschenmögliche tun würde, um Ihnen zu helfen.«
    Sie sah ihn mit einem reizenden Lächeln an.
    »Bitte schildern Sie mir nun einmal genau, was sich ereignet hat.«
    »Es ist so gekommen, wie ich es von Anfang an befürchtet habe«, seufzte Hester. »Wir alle beobachten uns misstrauisch und wissen nicht, woran wir sind. Selbst Vater und Gwenda haben das Vertrauen zueinander verloren. Ich glaube nicht, dass sie noch daran denken zu heiraten. Unsere Welt ist zusammengebrochen. Tina glaubt, dass Micky es getan haben könnte; allerdings kann ich mir es nicht vorstellen, da er an jenem Abend ja gar nicht zu Hause war. Kirsten ist der Meinung, dass ich es war, und sie versucht, mich zu beschützen. Mary dagegen denkt, dass Kirsten den Mord begangen hat.«
    »Und wen haben Sie in Verdacht, Hester?«
    »Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Ehrlich gesagt, habe ich vor allen Angst. Es ist, als verberge sich hinter jedem Gesicht eine fremde, unheimliche Person, die ich nicht kenne. Selbst Vater erscheint mir manchmal wie ein Fremder, und

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