Tödlicher Irrtum
Ahnung, was Sie angerichtet haben. Männer können eben nicht denken!« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Ich liebe die ganze Familie. Ich bin 1940 hergekommen, als Mrs Jackson das Heim für Kinder gründete, die ihre Familie bei den Luftangriffen verloren hatten. Nichts war ihr zu gut für diese Kinder, sie hatten hier den Himmel auf Erden. Das ist nun schon über zwanzig Jahre her, und ich bin noch immer da – selbst nach ihrem Tod –, um dafür zu sorgen, dass die Familie ein gemütliches Heim hat. Ich liebe sie alle, auch Clark habe ich geliebt – obwohl er ein schlechter Kerl war.«
Sie wandte sich plötzlich ab und schien vergessen zu haben, dass sie ihn hinausführen wollte. Calgary ging langsam die Treppe hinunter. Während er versuchte, die Haustür zu öffnen, hörte er leichte Schritte hinter sich auf der Treppe, dann stand Hester neben ihm.
Ihr tragisch-vorwurfsvoller Blick war ihm unbegreiflich.
»Warum mussten Sie nur kommen?«, flüsterte sie.
Er sah sie verwirrt an.
»Ich verstehe Sie nicht. Liegt Ihnen denn nichts daran, dass der Name Ihres Bruders von seinem Makel befreit wird? Legen Sie keinen Wert auf Gerechtigkeit?«
»Gerechtigkeit…«, wiederholte sie verächtlich. »Was hat Clark jetzt noch davon? Er ist tot. Es kommt auf uns an, nicht auf ihn.«
»Was soll das heißen?«
»Es kommt nicht auf die Schuldigen an – nur auf die Unschuldigen.«
Sie presste ihre Finger in seinen Arm.
»Auf uns kommt es an, begreifen Sie wirklich nicht, was Sie uns angetan haben?«
Er starrte sie verständnislos an.
Ein Mann kam über den dunklen Gartenpfad.
»Dr. Calgary?« sagte er. »Ihr Taxi ist da. Sie wollten doch nach Drymouth fahren?«
»Ja – ja, natürlich.«
Calgary blickte sich noch einmal um, aber Hester war bereits im Haus verschwunden.
Die Haustür fiel zu.
3
H ester ging langsam die Treppe hoch, wobei sie sich heftig und gedankenverloren zugleich die dunklen Haare aus der Stirn strich. Kirsten Lindstrom wartete schon oben auf sie.
»Ist er weg?«
»Ja, er ist gegangen.«
»Das war ein Schock, Hester, nicht wahr?« Kirsten Lindstrom legte ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Komm, ich schenk dir einen kleinen Brandy ein. All das war zu viel für dich.«
»Ich glaube, ich möchte keinen Brandy, Kirsty.«
»Natürlich nicht – aber er wird dir trotzdem gut tun.«
Unschlüssig, was sie nun wirklich wollte oder nicht, ließ sie sich den Flur entlang in Kirsten Lindströms kleines Zimmer bugsieren. Sie nahm den angebotenen Brandy und trank ihn in kleinen Schlucken.
Mit scharfer Stimme, der die Verärgerung deutlich anzumerken war, sagte Kirsten:
»Das kam alles viel zu plötzlich. Warum hat uns niemand vorgewarnt, warum hat Mr Marshall nicht erst mal geschrieben?«
»Ich denke, weil Dr. Calgary dagegen war. Er wollte kommen und uns die Geschichte selbst erzählen.«
»Kommen und selbst erzählen, wahrhaftig! Was hat er sich wohl vorgestellt, wie wir auf diese Neuigkeiten reagieren – was sie für uns bedeuten?«
»Ich vermute«, meinte Hester mit einer ihr fremden, tonlosen Stimme, »er glaubte, wir würden hocherfreut sein.«
»Erfreut oder nicht erfreut – auf jeden Fall war es ein Schock. Er hätte es nicht tun sollen.«
»Aber irgendwie war es auch mutig von ihm«, sagte Hester.
Langsam kehrte wieder Farbe in ihr Gesicht zurück.
»Es ist für ihn bestimmt nicht leicht gewesen – hierherzukommen und einer ihm unbekannten Familie mitzuteilen, dass der Sohn und Bruder, der als Mörder zum Tode verurteilt wurde und im Zuchthaus gestorben ist, in Wahrheit unschuldig war. Ja, ich glaube, es war sogar sehr mutig von ihm – aber ich wünschte trotzdem, er hätte geschwiegen.«
»Das… wünschen wir wohl alle«, beschied Miss Lindstrom sie brüsk.
Hester blickte sie mit neu erwachtem Interesse an.
»Du denkst also auch so, Kirsty? Ich glaubte, nur ich…«
»Ich bin keine Närrin«, erklärte Kirsten Lindstrom hart. »Ich kann mir einige mögliche Folgen dieser Eröffnungen vorstellen, an die dein Dr. Calgary wohl kaum gedacht hat.«
Hester stand auf.
»Ich muss nach Vater schauen«, sagte sie.
Kirsten Lindstrom stimmte ihr zu.
»Ja. Man wird überlegen müssen, was nun am besten zu tun ist.«
Gwenda Smith war am Telefon, als Hester die Bibliothek betrat. Ihr Vater bedeutete ihr freundlich zu bleiben, und Hester setzte sich auf die Armlehne seines Sessels.
»Wir versuchen Mary und Micky zu erreichen«, erklärte er. »Wir müssen ihnen umgehend
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