Tödlicher Mittsommer
starrte. Nora fragte sich, warum eigentlich immer alle Leute auf ihren Führerscheinfotos so schrecklich aussahen.
Es gab auch einen Kasten mit Fakten über die Zunahme der Sexualverbrechen in Schweden und über die sonstigen Überfälle, die in den letzten Monaten in anderen Landesteilen passiert waren. Es wurde angedeutet, dass die Polizei unfähig sei, die Frauen im Land zu schützen. Irgendein Politiker forderte herrisch, Frauen müssten sich überall sicher fühlen können, besonders im Sommer.
Nora war bestürzt darüber, wie Sandhamn dargestellt wurde. Es war unfassbar, dass es sich um denselben Ort handeln sollte, in dem sie von Kindesbeinen an jeden einzigen Sommer verbracht hatte. Plötzlich war aus ihrer geliebten Insel ein Symbol für Unsicherheit und Gewalt gegen Frauen geworden.
Die andere Abendzeitung hatte sich auf die Verbindung zum KSSS und alle berühmten Segelregatten konzentriert, die in Sandhamn ausgetragen wurden.
»Hier vergnügt sich der König am Tatort«, verkündete eine fette Schlagzeile. Ein Foto von Seiner Majestät auf einem Schiff vor dem Seglerrestaurant nahm fast eine ganze Seite ein. Dann folgte ein detaillierter Bericht über die verschiedenen Regatten mit königlicher Beteiligung, bevor man zu einer Beschreibung des begangenen Verbrechens überging.
Viele Vorstandsmitglieder des KSSS waren prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Irgendwie hatte man es geschafft, von mehreren dieser Leute nichtssagende Kommentare zu erhalten. Alledrückten mit ernsten Worten ihre Betroffenheit über das Geschehene aus.
Ausnahmslos Männer, natürlich.
Mit der aufgeschlagenen Zeitung vor sich grübelte Nora über einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Tod von Kicki Berggren und dem ihres Cousins nach. Warum sollte jemand die beiden umbringen wollen, und warum ausgerechnet auf Sandhamn? Sie musste an das Netzholz denken, von dem Thomas erzählt hatte. Darauf hatten die Initialen G A gestanden.
Aus einem Impuls heraus stand sie auf und ging in die Küche, wo der Sandhamnskatalog lag, das spezielle Telefonbuch, das vom Inselverein Sandhamns Vänner herausgegeben und nur an dessen Mitglieder verteilt wurde. Sie schlug das Telefonbuch auf und ging alle Nachnamen durch, die mit A anfingen. Es waren ungefähr dreißig. Von diesen kontrollierte sie jeden Eintrag daraufhin, ob der Betreffende einen Vornamen hatte, der mit G begann. Anschließend wiederholte sie die Prozedur mit den Personen, deren Nachname mit G anfing. Das waren etwas weniger, und von diesen wiederum schrieb sie diejenigen heraus, deren Vorname mit A begann.
Nach einer Weile hatte sie eine Liste von Leuten zusammen, deren Initialen entweder G A oder A G waren. Insgesamt vierundfünfzig Personen hatten einen Nachnamen, der mit G oder A begann.
Nora betrachtete die Liste mit den Namen. Viele der Leute kannte sie persönlich, bei den anderen wusste sie zumindest, um wen es sich handelte. Sandhamn war nicht groß, die meisten Bewohner kannten sich untereinander. Sobald sie Thomas wiedersah, würde sie ihm die Liste geben. Er hatte sicher nicht daran gedacht, dass es ein spezielles Telefonbuch nur für Sandhamn gab.
Nora kehrte zu den Zeitungen im Garten zurück und vertiefte sich wieder in die Spekulationen über die Todesfälle. Sie war so versunken in einen der Artikel, dass sie Henriks Schritte überhörte, der von seiner Joggingrunde zurückkam. Erst als er sich auf das Sofa ihr gegenüber setzte, schreckte sie hoch.
»Du liest tatsächlich diesen Schund?«
Er musterte die Zeitungen.
»Ich konnte nicht widerstehen. Es ist so furchtbar.« Sie hielt ihm die andere Zeitung hin. »Es ist, als würde man von einer fremden Welt lesen.«
Henrik beugte sich vor und überflog die Artikel. Er schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. Sein Shirt war durchgeschwitzt und das dunkle Haar feucht von der Anstrengung. Er griff nach dem Handtuch, das um seinen Hals lag, und wischte sich die Stirn ab. Dann zog er das Shirt aus und hängte es zum Trocknen über den weißen Lattenzaun.
»Ich bin am Missionshaus vorbeigelaufen. Das ganze Gelände ist mit blau-weißem Polizeiband abgeriegelt. Sie haben das Haus bis auf Weiteres geschlossen. Kein besonders gutes Timing, so mitten in der Hochsaison. Andererseits kommen vielleicht ohnehin nicht mehr viele Touristen, wenn das so weitergeht. Ich könnte mir vorstellen, dass die Leute lieber woanders hinfahren.« Er zwinkerte ihr ironisch zu. »Oder was würdest du machen, wenn du
Weitere Kostenlose Bücher