Tödlicher Mittsommer
Backbordseite über die Reling fallen. Durch das Dröhnen der Schiffsmotoren hörte sie zunächst nichts.
Der Schrei drang erst an ihre Ohren, als sie bereits an der Stelle vorbei waren.
»Robin«, keuchte sie. »Hast du das gesehen? Da ist einer über Bord gefallen.«
Ihre Augen waren weit aufgerissen, und durch den Schock begannen Tränen darin zu glänzen.
»Ich habe gesehen, wie ein Mensch ins Wasser gefallen ist! Wir müssen jemandem Bescheid sagen!«
Der Junge sah das Mädchen skeptisch an.
»Wem sollen wir Bescheid sagen? Bist du sicher, dass es ein Mensch war? Du spinnst doch nicht rum, oder?«
Mit verzweifelten Augen sah sie ihn an.
»Wir müssen Bescheid sagen«, wiederholte sie. »Irgendwem. Die müssen das Schiff stoppen und nach ihm suchen!«
Sie griff nach der Hand des Jungen.
»Komm schnell!«
Er rührte sich immer noch nicht. Der Zweifel stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Stattdessen zog er sie wieder an sich. Seine Lippen suchten ihren Mund.
»Lass doch«, murmelte er. »Du siehst Gespenster. Da war bestimmt nichts.«
Unruhig versuchte sie, sich von ihm loszumachen.
»Mann, Robin, vielleicht hat ihn jemand geschubst!«, rief sie. »Was, wenn wir einen Mord beobachtet haben?«
Er beachtete ihre Proteste nicht.
»Das war sicher nur ein Vogel. Außerdem ist es jetzt sowieso zu spät, um noch was zu unternehmen.«
Seine Hände streichelten immer eifriger über ihre warme Haut. Er presste seinen pochenden Unterleib gegen ihren.
»Komm«, keuchte er ihr ins Ohr. »Entspann dich.«
Verwirrt sträubte sie sich noch einige Sekunden lang. Dann wurde ihr Körper weich. Sie wandte ihm den Mund zu. Und sie gab den Gedanken an den Unbekannten auf, der über Bord gefallen war.
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Kapitel 24
Montag, dritte Woche
Kapitel 24
Das Schiff aus der Stadt hatte ein paar Minuten Verspätung. Es hätte um elf eintreffen sollen, war aber noch nicht zu sehen. Der Kai wimmelte von Menschen in Sommershorts und dünnen Hemdchen. Einige hatten Karren für den Gepäcktransport dabei.
»Wann kommen Oma und Opa?«, fragte Simon zum dritten Mal.
»Gleich, Liebling. Sobald das Schiff hier ist.«
»Ich will ein Eis«, sagte Adam und schaute sehnsüchtig zum Kiosk, vor dem eine lange Schlange stand.
Nora schüttelte den Kopf.
»Nicht jetzt. Wir essen sofort, wenn Oma und Opa angekommen sind. Du hast nachher keinen Hunger mehr, wenn du jetzt Eis isst.«
»Aber ich will jetzt ein Eis. Bitte, Mama.«
Simon zögerte nicht, sich anzuschließen.
»Ich auch, ich auch! Bitte, bitte, bitte.« Er sah sie mit flehendem Blick an und faltete theatralisch die Hände.
Nora blickte auf den Sund hinaus. Von der Cinderella war noch nichts zu sehen. Die Fähre hatte nur selten Verspätung, aber wenn, dann gleich ordentlich. Sie kapitulierte. Es würde ohnehin eine ganze Weile dauern, bis alle von Bord gegangen waren.
»Na, meinetwegen. Aber nur ein kleines Eis für jeden. Versprochen?«
Sie schaute ihre Söhne mit strengem Blick an und holte ihr Portemonnaie heraus. Adam bekam einen Fünfzig-Kronen-Schein in die Hand gedrückt.
»Es darf nicht mehr kosten als fünfzehn Kronen. Ich warte hier so lange.«
Sie setzte sich auf die Bank neben der Informationstafel mit den Fahrplänen und sah sich um.
Der Hafen war voller Leben und Bewegung. Der Lieferwagen des Seglerrestaurants lud die Waren ein, die mit der Morgenfähre gekommen waren. Einer der Inselhandwerker knatterte mit seinem Lastenmoped vorbei, das mit diversen Säcken beladen war.
Vor Westerbergs Livs hatte der Gemüsestand aufgemacht. Das verlockende Angebot von sonnenreifen Tomaten und anderem Gemüse, das neben Melonen und Nektarinen lag, erinnerte an einen Markt in Südfrankreich.
An einem Ende des Verkaufsstands beugte sich eine alte Frau tief über die Kartoffelkiste und sammelte mit sicherem Gespür die kleinsten und schönsten neuen Kartoffeln heraus. Sie hob sie einzeln hoch und untersuchte sie genauestens im Sonnenlicht, bevor sie in ihrer Einkaufstasche verschwinden durften. Die junge Frau an der Kasse verdrehte die Augen, aber die Alte ließ sich nicht beirren.
Ein kleines Mädchen, dessen Mutter am Gemüsestand einkaufte, schaute sehnsuchtsvoll zu den Schälchen mit Himbeeren und Erdbeeren, die dicht an dicht aufgereiht standen.
Eine richtige Idylle, dachte Nora. Wenn da nicht der kleine Haken wäre, dass auf dieser Insel Menschen ermordet wurden.
Im selben Moment, als die Cinderella endlich an der Dampfschiffbrücke anlegte und Harald
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