Tödlicher Mittsommer
Bikini.
»Kannst du erzählen, was passiert ist?«, begann Thomas.
Er hatte frischen Tee für sie beide gekocht und saß auf der kleinen Glasveranda in einem Korbstuhl neben Nora. Im Haus war es fast vollkommen still, bis auf das leise Ticken der Küchenuhr. Geduldig wartete er darauf, dass Nora die richtigen Worte fand.
Nach einer Weile begann sie zögernd den gesamten Handlungsablauf zu beschreiben, von dem Moment, als sie den seltsamen Gegenstand im Wasser treiben sah, bis zu Thomas’ Ankunft am Strand.
»Hast du gesehen, aus welcher Richtung Jonny angetrieben kam?«, fragte Thomas.
Nora schloss die Augen und sah unsicher aus.
»Er lag einfach da im Wasser. Es war fast windstill.«
»Erinnerst du dich, ob sonst noch jemand am Strand war, der ihn ins Wasser gestoßen haben könnte?«
»Wir waren fast die Einzigen, als wir ankamen. Zwei oder drei Leute lagen ein Stück entfernt, mehr zum kleinen Trouvillestrand hin, aber keiner an dem Ende, wo er im Wasser trieb.«
»Und du hast kein Boot in der Nähe gesehen, von dem aus man die Leiche über Bord gekippt haben könnte?«
Nora machte ein skeptisches Gesicht.
»Es war sehr ruhig. Ich dachte noch, wie gut, dass wir so früh dran sind, denn es waren kaum Leute am Strand.«
Sie verstummte, schien in ihrer Erinnerung zu suchen. Dann erzählte sie von der grellen Sonne, die sie stark geblendet hatte, als sie versuchte, etwas zu erkennen.
»Mehr habe ich wirklich nicht gesehen.«
»Fällt dir irgendwas Ungewöhnliches ein, was auch immer, das nicht in die Umgebung passte?« Thomas beugte sich zu ihr vor. »Versuch dich an alles zu erinnern, jede Kleinigkeit. Jemand, den du nicht kanntest oder der sich am Strand auffällig benommen hat.«
Nora knüllte ihr Papiertaschentuch in den Händen, es löste sich langsam in kleine weiße Fetzen auf. Das dünne Papier war nicht dafür gemacht, stärkere Strapazen auszuhalten als ein kräftiges Hineinschnäuzen. Vor Noras Verzweiflung musste es kapitulieren.
Thomas sah wieder vor sich, wie ihm Kicki Berggren nur knapp zwei Wochen zuvor gegenübergesessen und ein Papiertaschentuch auf genau dieselbe Weise zerkrümelt hatte, während sie die Nachricht vom Tod ihres Cousins aufnahm.
»Es tut mir leid«, sagte Nora. »Aber ich kann mich an nichts Besonderes erinnern. Nichts, was erklären könnte, wie Jonny im Wasser gelandet ist.«
Sie begann wieder zu weinen, griff nach der Teetasse und umklammerte sie krampfhaft.
»Es ist so unwirklich. Ich kann nicht begreifen, dass Jonny tot ist.«
Thomas streichelte vorsichtig ihre Hand.
»Das geht mir auch so. Etwas Derartiges dürfte überhaupt nicht passieren. Wenn ich wüsste, wer dahintersteckt, würde ich ihm auf der Stelle das Handwerk legen, das kannst du mir glauben.«
Er lehnte sich in dem Korbsessel zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
Noras Anblick bekümmerte ihn. Sie war blass und sah unter der Sonnenbräune verfroren aus. Der Schock war deutlich an ihren trägen Bewegungen abzulesen. Ihre Augen waren rot geweint und die Nase geschwollen.
»Wann kommt Henrik nach Hause? Ich möchte nicht, dass du allein bist.«
Nora zuckte resigniert die Schultern.
»Ich nehme an, dass er in ein paar Stunden hier sein wird. Aber ich komme zurecht, mach dir keine Sorgen. Adam und Simon sind bei meinen Eltern. Ich kann ja einfach rübergehen, wenn ich Gesellschaft will.«
Sie nahm ein neues Papiertaschentuch und schnäuzte sich kräftig.
»Außerdem denke ich, dass ich versuchen werde, ein bisschen zu schlafen. Geh nur, ich weiß ja, dass du anderes zu tun hast.«
Thomas nickte ihr aufmunternd zu.
»Ein paar Stunden Schlaf sind eine gute Idee. Ruf mich an, falls dir noch was einfällt, und auch, wenn du einfach nur reden möchtest. Ich lasse das Handy die ganze Zeit eingeschaltet. Ansonsten rufe ich dich morgen an.«
Auf der Treppe verharrte Thomas einen Moment. Er wog das Mobiltelefon in der Hand und überlegte, ob er Henrik anrufen sollte. Henrik war immer sehr nett, wenn Nora dabei war, aber Thomas hatte vom ersten Moment an gespürt, dass er bei ihm auf einen gewissen Widerstand traf. Irgendetwas sorgte dafür, dass Thomas sich in seiner Gegenwart nicht völlig entspannt fühlte.
Es war, als könnte Henrik sich nicht richtig mit der selbstverständlichen und tief gewachsenen Freundschaft zwischen Thomas und Nora abfinden. Dabei war er wohl nicht im eigentlichen Sinne eifersüchtig. Es war eher so, als fasste er die Freundschaft zwischen Thomas und
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