Tödlicher Mittsommer
weinten leise, während sie miteinander redeten. Es gab keinen, der an diesem Abend nicht seine Haustür verschließen würde.
»Thomas«, rief Åsa, eine der jüngeren Frauen in der Meldestelle, die vor ein paar Jahren auf die Insel gezogen war, nachdem sie sich in einen Einheimischen verliebt hatte. »Komm, du kriegst jetzt einen frischen Kaffee. Soll ich dir auch ein Brot schmieren? Du siehst ziemlich erledigt aus.«
Thomas lächelte sie dankbar an.
»Das wäre super. Ich glaube, ich habe heute noch nicht viel gegessen.«
Åsa brachte ein großes Käsebrot und eine Tasse Kaffee in den Ruheraum im ersten Stock, wohin Thomas sich zurückgezogen hatte. Das Zimmer war sparsam möbliert. Ein einfacher Holztisch mitzwei Stühlen stand am Fenster, und am anderen Ende hatte jemand mit einiger Mühe ein Bett aufgestellt, das genau zwischen die Wände passte.
Während seiner Zeit bei der Wasserschutzpolizei hatte Thomas hier übernachtet, wenn er nicht mehr nach Harö oder aufs Festland zurückgekommen war.
Hungrig machte er sich über das Käsebrot her und schaute hinaus auf die alte Kiesgrube, aus der die Segelschiffe viele hundert Jahre lang Ballastsand geladen hatten, für zwei Öre pro Tonne. Jetzt war sie schon lange stillgelegt und eingezäunt. Nur ein steiler, unnatürlich schroffer Abhang zeugte noch von den Arbeiten vergangener Zeiten.
Åsa unterbrach die Stille.
»Schmeckt’s?«
Thomas biss noch einmal herzhaft von dem Käsebrot ab.
»Wunderbar, jetzt geht es mir schon viel besser. Danke, Åsa. Das war dringend nötig.«
Es wurde still. Åsa sah traurig aus. Man konnte sehen, dass sie ebenfalls geweint hatte.
»Ich verstehe einfach nicht, warum jemand den armen Jonny umbringen musste«, sagte sie schließlich. »Einen harmloseren Kerl als ihn muss man lange suchen. Was hat er in seinem Leben schon Böses getan?«
»Ich weiß es nicht, Åsa. Manchmal passieren Dinge, die man nicht begreift.«
»Außerdem frage ich mich, was er mit diesen beiden anderen Toten zu tun hatte. Ich habe nie vorher was von denen gehört. Die kannte doch keiner auf der Insel.«
Åsa schluchzte.
»Ich glaube, es gibt da eine Verbindung, die wir im Moment ganz einfach nicht sehen«, versuchte Thomas zu erklären. »Irgendwo sind Jonny und Kicki Berggren sich über den Weg gelaufen, aber derzeit wissen wir nicht, wie oder warum.«
»Aber wieso? Jonny hatte nicht viele Freunde, schon gar nicht außerhalb der Insel. Er hat Sandhamn fast nie verlassen, wenn er nicht musste. Er hasste es, aufs Festland zu fahren. Da kann man nicht atmen, hat er immer gesagt.«
Sie schüttelte ratlos den Kopf.
Thomas streckte seine müden Muskeln und ließ seinen Blickwieder zur Kiesgrube wandern. Es musste ein hartes Brot gewesen sein, Sand auf die Schiffe zu laden, die an den riesigen Ankern lagen, die man schon im achtzehnten Jahrhundert im Hafen eingegraben hatte.
Aber damals starben ja auch viele Arbeiter schon in jungen Jahren, vorzeitig erschöpft und verbraucht.
Er verdrückte den letzten Bissen und wischte sich den Mund mit einem Stück Küchenpapier ab, das Åsa ihm hingelegt hatte.
»Vielen Dank noch mal, Åsa. Ich muss jetzt los. Hab noch ein paar Dinge zu erledigen.«
In der Tür drehte er sich um.
»Du, ich werde hier wohl ein paar Stunden schlafen, falls es zu spät wird, um noch nach Harö zu fahren. Ich schaffe es heute Abend wahrscheinlich nicht mehr zurück in die Stadt.«
Åsa nickte und schenkte ihm ein schwaches Lächeln.
»Natürlich kannst du das Zimmer auch nachts haben, wenn nötig. Du hast doch einen Schlüssel, oder?«
Thomas wurde plötzlich ganz nostalgisch zumute, als Bilder von späten Abenden während seiner Zeit als Wasserschutzpolizist durch seinen Kopf huschten.
»Hab ich. Das wird wie in guten alten Zeiten. Als wir uns auf Sandhamn nur um betrunkene Halbstarke und gestohlene Motorboote kümmern mussten.«
Thomas versuchte ein aufmunterndes Lächeln, aber es wurde eher eine Grimasse daraus. Er wollte nicht zu erkennen geben, wie beunruhigt er war. Bei all den traurigen Gesichtern, die ihn umgaben, war es schwer, eine zuversichtliche Miene zu machen.
Sie mussten das Muster erkennen, sonst würden sie den Mörder nie finden. Irgendwo gab es einen roten Faden, den sie übersehen hatten. Es konnte nicht anders sein.
Als Thomas aus der Meldestelle kam, schlug er den kleinen Weg zur Rechten ein, der hinunter zur Strandpromenade führte. Er verlief zwischen zwei gelben Holzhäusern, die Ende des
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