Tödlicher Mittsommer
einer großen Hochseeregatta, die jedes Jahr von Sandhamn veranstaltet wurde.
Obwohl sie das Meer um Sandhamn wie ihre Westentasche kannte und schon Dutzende Male nach Skanskobb hinausgefahren war, verfehlte sie die Insel vollständig. Stattdessen entdeckte sie plötzlich direkt vor sich einen großen Leuchtturm. Sie war an Skanskobb vorbeigefahren und nun kurz davor, mit Svängen zu kollidieren, dem Offshore-Leuchtfeuer südlich von Korsö. Wäre sie nicht dort gelandet, hätte es durchaus passieren können, dass sie immer weiter bis auf die offene Ostsee hinausgefahren wäre. Seit diesem Abendhatte sie das Navigieren im Nebel nie wieder auf die leichte Schulter genommen.
Nora sah auf die Uhr.
Die roten Digitalziffern zeigten 06:15. Zu früh, um aufzustehen, zu spät, um wieder einzunicken. In den letzten Nächten hatte sie schlecht geschlafen. Die Stimmung zwischen ihr und Henrik war immer noch angespannt, wenn auch nicht mehr ganz so frostig wie vor ein paar Tagen.
Nach langem Überlegen hatte sie beschlossen, in die Stadt zu fahren und sich mit dem Personalvermittler zu treffen. Und zwar morgen. Sie war zu dem Ergebnis gekommen, dass es keinen Sinn hatte, noch mal mit Henrik über die Sache zu reden. Besser, sie hatte das Bewerbungsgespräch hinter sich, bevor sie das Thema erneut auf den Tisch brachte.
Sie schlüpfte aus dem Bett und zog ihre Jeans und einen Pullover über. Ein paar alte Segelstiefel, die sie schon als Teenager getragen hatte, mussten genügen. Das Gummi wurde langsam brüchig, und im Schaft zeigten sich Risse, aber man konnte leicht hineinsteigen. Dann zog sie eine alte Segeljacke über, die irgendwer mal hier vergessen hatte, und griff sich einen Apfel aus der Obstschale.
Die Luft war frisch und kühl, winzige Tropfen legten sich sofort wie ein dünner Film auf ihr Gesicht, als sie aus dem Haus trat. Es war vollkommen still, alle Geräusche wurden von dem dicken Nebel erstickt, nicht einmal eine Möwe war zu hören.
Sie blickte zum Meer, sah aber nichts. Die vertrauten Konturen der Inseln vor Sandhamn wurden von der grauen Wand verschluckt. Am äußersten Ende der Kaianlagen verschwand die Welt in Nebelwatte, ein gespenstischer Horizont ohne Anfang und Ende. Nora zog die Kapuze über die Haare und steckte die Hände in die Taschen. Dann ging sie mit schnellen, langen Schritten Richtung Sandfeld und in den Wald.
Zusammen mit dem weichen Moos bildete die Heide einen Teppich, der unter ihren Schritten leicht federte. Nur die Fußabdrücke in der dicken Schicht Kiefernnadeln auf dem Pfad zeugten davon, dass sie hier gegangen war. Sie schloss die Augen und atmete tief ein.
Weit und breit kein Mensch.
Nur vollkommener Frieden.
Nach einem langen Spaziergang durch den Wald kam sie am nordwestlichen Ende der Insel heraus. Hier standen nur ein paar einzelne Häuser. Die Grundstücke waren viel größer und mit Kiefern und Blaubeergestrüpp bewachsen – ein starker Kontrast zu den winzigen Grundstücken im Ort, deren Flächen zum überwiegenden Teil für Blumenbeete genutzt wurden.
Es rauschte leise in den hohen Kiefernwipfeln. Der Nebel schien sich ein wenig gelichtet zu haben, die Sicht war jetzt besser, und Nora konnte das Ufer erkennen.
Sie bog nach rechts ab und ging den schmalen Waldpfad entlang, der zurück in den Ort führte. Unterwegs kam sie an dem kleinen Friedhof vorbei, der von einem einfachen weißen Lattenzaun eingerahmt wurde. Aus einer Laune heraus öffnete sie das Tor und trat ein. Dann blieb sie stehen und betrachtete den idyllischen Platz.
Der Friedhof von Sandhamn war während der großen Cholera-Epidemie angelegt worden, die um 1830 herum gewütet hatte. Viele der Gräber waren schön und aufwendig gestaltet, nicht selten mit Marmor- und Granitstelen. Manche waren von Flechten überwuchert und hatten so verwitterte Inschriften, dass sie kaum zu entziffern waren.
An den Gräbern konnte man viel über die Bevölkerung der letzten Jahrhunderte ablesen und wie sie gelebt hatte. Auf jedem Stein war sorgsam verzeichnet, wer hier begraben war und welchen Beruf er gehabt hatte. Es waren eine ganze Reihe Lotsenmeister und Zollbeamte darunter, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten, oft zusammen mit der »treuen Gattin«, der Ehefrau, deren Namen stets ganz unten stand.
Viele der Namen erkannte Nora wieder. Es waren Familien, die immer noch ihr Haus auf Sandhamn hatten. Häuser, die von einer auf die andere Generation weitervererbt wurden, oft erbaut aus dem Material
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