Tödlicher Puppenzauber
Krawatte. Die Hose hatte er öffnen müssen, um all die Massen in sich hineinstopfen zu können. Er war noch dabei zu essen und stopfte sich große Stücke Fleisch, die zwischen seinen Fingern klemmten, in den Mund. Das Fleisch sah ungemein echt aus und war noch leicht blutig.
»Das ist hart«, sagte ich.
»Aber echt.«
»Stimmt, wenn man genauer darüber nachdenkt. Vielleicht sogar eine Spur zu überzogen.«
Jessica hob die Schultern. »So sollte es auch sein. Man kann den Menschen nur den Spiegel vors Gesicht halten, wenn man in bestimmten Dingen überzieht. Damit zwingt man sie, über eine Sache nachzudenken. Schauen Sie nach links.«
Ich mußte einen Schritt weitergehen, um den Rest des Stillebens erkennen zu können.
Zwischen dem Müll lag ein Mensch. Eine Puppe, die verhärmt, verhungert aussah und verzweifelt ihre Hände dem Fresser entgegenstreckte, ohne daß der dem anderen etwas abgab. Erließ ihn verhungern.
»Die Dritte Welt und die unsrige, wie ich annehme?«
»So ist es.«
»Schlimm«, sagte ich leise. »Aber irgendwie auch verdammt treffend.«
»Stimmt.«
Ich warf noch einen letzten Blick auf die Szene, bevor wir weitergingen und zu einer Performance kamen, die wiederum ganz anders aussah und auch nichts mit Kritik an gewissen Zuständen zu tun hatte. Jessica hatte eine Bühne auf der Bühne aufgebaut. Diese Performance lag leider im Dunkeln, was Jessica schnell änderte, denn sie rieb ein Streichholz an und hielt die Flamme gegen die Dochte der vier Kerzen. Ein warmes Licht breitete sich aus und riß die Szenerie aus der Düsternis.
Im Hintergrund standen zahlreiche nackte Puppen. Babies, Erwachsene, Männer und Frauen. Das Licht spiegelte sich auf ihren nackten Körpern. Durch den Luftzug bewegten sich die Flammen, so daß sie in der Lage waren, auch Schatten zu zaubern.
Diese tanzten nicht nur über die Körper im Hintergrund hinweg, sie erreichten vor allen Dingen auch den Vordergrund, wo eine Puppe mit langen roten Haaren waagerecht in der Luft schwebte - mit nach unten gebogenen Armen.
Hinter ihr stand eine zweite Puppe. Ihr fast weißes Haar umwehte den ansonsten nackten Kopf wie ein wuscheliger Schleier. Sie hielt die Arme hoch und starrte aus ihren dunklen Augen auf die schwebende Person nieder.
»Eine Zauberkünstlerin. Sie hat die andere hypnotisiert«, erklärte mir Jessica.
Ich murmelte meine Zustimmung und fragte dann: »Hat diese Szene auch etwas zu bedeuten?«
»Ja. Sie soll die Kraft darstellen, die in den Menschen steckt und noch nicht meßbar ist. Ich habe dieser Darstellung den Titel Psycho gegeben und vereinige damit in diesem Begriff all die geistigen Kräfte, die noch in uns Menschen stecken.«
»Das ist gut.«
»Ein Versuch, mehr nicht. Vielleicht werde ich daran noch etwas ändern und alles intensiver darstellen, wobei ich es dem Betrachter auch verständlicher machen kann.«
»Mir würde es auch so genügen.« Ich ging zur Seite und schlug einen kleinen Kreis nach links, weil ich mir auch die Rückseite dieser Szene anschauen wollte.
Beim ersten Betrachten hatte ich im Hintergrund nur nackte Puppen gesehen. Dann fiel mir auf, daß eine von ihnen angezogen war. Es war eine männliche Puppe. Sie trug einen Anzug aus dunkelgrauem Stoff und auf dem runden Kopf einen Zylinder. Die Mundwinkel waren nach unten gezogen, in die Augen konnte ich nicht schauen, da die Krempe des Zylinders einen Schatten produzierte, der über die Augen hinweglief. Jessica stand noch dort, wo ich mich zuvor aufgehalten hatte. Ich schaute über die Szene hinweg zu ihr hinüber. »Eine Puppe haben Sie angezogen, weshalb?«
Sie war etwas irritiert. »Wieso?«
»Hier.« Ich streckte den Arm aus.
Sie kam zu mir, blieb stehen, hob die Schultern und schüttelte auch den Kopf. »Tut mir leid, John, aber diese Puppe gehört mir nicht. Sie stammt nicht von hier…«
»Was haben Sie da gesagt!« Plötzlich spannte sich die Haut auf meinem Rücken.
»Es ist nicht meine!«
Sie hatte die Antwort kaum gegeben, als sich die männliche Puppe vor uns bewegte…
***
Zwei Puppenkliniken hatte Suko bereits besucht und war ohne Ergebnis wieder losgefahren. Mittlerweile sank seine Laune dem Tiefpunkt entgegen. Er überlegte, ob er noch einen dritten Versuch starten sollte oder nicht. Im Wagen kramte er den Zettel mit den notierten Adressen hervor. Ein Puppenladen befand sich in der Nähe. Einige Straßen weiter und noch zu Whitechapel gehörend, aber schon der Themse zu und damit der Gegend, die in
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