Tödlicher Ruhm
die sie am Morgen am Spiegel gelesen hatte. »Die Schlampe Kelly ist noch Nummer eins.«
Wusste Kelly, dass sie Nummer eins war? Dass sie gewinnen würde? War das der Grund, weshalb sie aufgeregt war? Dervla spürte, wie eine massive Woge des Unmuts gegenüber diesem dummen kleinen Mädchen in ihr aufwallte, das sich über sie schob. Was war so Besonderes an Kelly? Sie war nicht die Hellste, hatte reichlich lockere Moralvorstellungen, kleidete sich eher fragwürdig, und doch schien es, als wäre sie von der Spitze nicht mehr zu verdrängen. Dervlas Vertrauen darauf, einen längeren Atem als Kelly zu haben, verpuffte. Kelly würde gewinnen.
Sie würde allen Ruhm absahnen und die halbe Million Pfund dazu. Die halbe Million Pfund, von der Dervla insgeheim träumte, seit ihre Bewerbung angenommen worden war. Die halbe Million Pfund, die ihre Familie vor einer Katastrophe retten würde... ihre über alles geliebten Eltern und ihre süßen kleinen Schwestern.
Dervla fragte sich, wieso es Kelly plötzlich so eilig hatte und wohin sie wollte. Was hatte sie vor?
Sally wich in die hinterste Ecke des Schwitzkastens zurück, in der sie sich praktisch schon die ganze Zeit versteckt hielt, wobei sie sämtliche Hände oder Gliedmaßen, die in ihre Nähe kamen, allesamt von sich stieß. Als Kelly an ihr vorüberkam, schubste sie sie. Die hat es aber eilig, aus dem Schwitzkasten zu kommen, dachte Sally, ehe ihr trotz der Hitze das Blut in den Adern zu gefrieren drohte. Plötzlich dachte sie an ihre Mutter, an das einzige Mal, als sie mit ihr gesprochen hatte. Hinter einer Glasscheibe, durch eine Gegensprechanlage.
»Ich weiß nicht, weshalb jemand wie ich so etwas tut«, hatte die Stimme ihrer Mutter knisternd gesagt. »Man sitzt wie in einem schwarzen Loch, einer dunklen Kiste, und dann passiert es einfach.« Plötzlich glaubte Sally zu wissen, wie sich ihre Mutter gefühlt hatte. Auch sie saß in einer schwarzen Kiste. Und diese schwarze Kiste war real.
Gazzer dachte genau das, was er schon die ganze Zeit über Kelly gedacht hatte. Er behielt es lieber für sich, aber eines Tages würde er es der Schlampe zeigen. Im Haus oder draußen — er würde ihr heimzahlen, was sie über seinen kleinen Jungen angedeutet hatte, seinen süßen Ricky. Dem ganzen Land zu erzählen, er sei ein selbstsüchtiger Schnorrer von einem Vater, der nie da war und den der Kleine einen Dreck interessierte. Das hatte sie doch sagen wollen, mehr oder weniger. Gazzer würde es ihr zeigen. Früher oder später. Eher früher.
Inzwischen war Kelly an allen vorbei und draußen. Gierig atmete sie die frischere, kühlere Luft, die ihr ins Gesicht schlug, als sie zwischen den Klappen des Schwitzkastens hervorkam. Da sie immer noch fürchtete, ihr würde alles hochkommen, lief sie eilig aus dem Jungenzimmer zur Toilette.
Wenige Minuten später sahen Geraldine und ihr Team auf den Monitoren, wie jemand aus dem Schwitzkasten trat, sich in ein Tuch hüllte und Kelly zur Toilette folgte, wobei er nur kurz Halt machte und ein Messer mitnahm.
Um sie zu töten.
27. Tag 23:46 Uhr
»Oh, mein Gott! Oh, bitte, lieber Gott, nein!«
Eigentlich sah es Geraldine nicht ähnlich, jemanden um Hilfe zu bitten, schon gar nicht den Allmächtigen, aber schließlich waren dies besondere Umstände. Die Lache am Boden um Kelly herum war sehr plötzlich aufgetaucht und breitete sich rasch aus.
»Fogarty, du und Pru, ihr zwei kommt mit. Du auch!«, bellte Geraldine einen der Botenjungen an. »Ihr anderen bleibt hier.«
Geraldine und ihre Kollegen stürmten aus dem Monitorbunker die Treppe hinunter in den Tunnel, der unter dem Wassergraben hindurchführte und den Produktionskomplex mit dem Haus verband. Vom Tunnel aus gelangte man in die Kameragänge und von dort aus in jeden Raum des Hauses.
Larry Carlisle, der unermüdliche Kameramann, hörte ein Geräusch hinter sich. Später würde er der Polizei erklären, er habe gedacht, seine Ablösung sei früh dran, und wollte sich schon umdrehen und dem Mann sagen, er solle nicht so einen Lärm machen, als Geraldine mit dem halben Team an ihm vorbeigehetzt kam.
»Durch den Lagerraum!«, bellte Geraldine, und einen Moment später stand sie mit ihren Kollegen blinzelnd im grellen Neonlicht. Später würden sich alle daran erinnern, wie sonderbar es ihnen selbst in diesem Augenblick der Panik vorgekommen war, dort im Inneren des Hauses zu stehen. Keiner von ihnen hatte es mehr betreten, seit die Bewohner eingezogen waren, und nun kamen
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