Tödlicher Staub
Schulter. Sie wußte genau, wie der Tag enden würde, aber es war kein Widerwille mehr in ihr wie bei anderen Männern, kein Ekel, kein Haß, kein Schmutz. Nur ein kaum wahrnehmbares Zittern und Flimmern zog durch ihren Körper. Alles in ihr drängte zu ihm … es war das erste Mal in ihrem Leben, daß sie bei dem Wunsch erbebte, in den Armen eines Mannes zu liegen und wegzugleiten in einen Himmel, der bisher nur in ihren kühnsten Träumen existiert hatte.
Sie blieben bis um sieben Uhr früh auf dem Zimmer. Sie verschmolzen miteinander, als habe es nie zwei Körper gegeben. Es war ein Geben und Nehmen von so elementarer Kraft, daß sie glaubten, in diesem Feuer zu verglühen.
Das Leben der Natalja Petrowna Victorowa hatte einen Sinn bekommen, und sie war frei geworden … frei wie ein Habicht am Himmel von Sibirien …
Für Sybin war es absolut rätselhaft, warum er von Natalja nichts mehr hörte.
Der letzte Anruf aus Paris war vor drei Wochen erfolgt … und seitdem nur noch Schweigen. Drei Wochen, in denen Sybin immer wieder bei Dr. Sendlinger das Telefon klingeln ließ und immer die gleiche Frage stellte:
»Natalja ist stumm! Was kann das bedeuten? Ich mache mir Sorgen um sie. Du hast mir den ›Roten Salon‹ empfohlen … ist sie dort wirklich gut aufgehoben?«
»Nur bei Madame de Marchandais kann sie die Leute kennenlernen, die für uns wichtig sind. Wenn es eine Organisation von Atomschmugglern gibt, dann sitzt deren Oberhaupt unter Garantie an der Bar von Madame! Ich denke da vor allem an Anwar Awjilah – ein gerissener Bursche, den man im Auge behalten muß!«
»Aber warum schweigt sie? Ich bin unruhig, Paul.«
»Dazu gibt es keinen Grund. Sobald Natalja etwas erfahren hat, wird sie bestimmt anrufen.«
Aber Sendlinger besänftigende Worte trösteten Sybin nicht. In den letzten Tagen hatten sich die schlechten Nachrichten gehäuft, und die schlimmste war aus Krasnojarsk gekommen.
Wawra Iwanowna Jublonskaja war gestorben.
Ganz plötzlich … am Abend war ihre Haut gelb geworden, sie fühlte sich müde und kraftlos, ging früh zu Bett und fiel sofort in einen tiefen Schlaf. Als Suchanow am nächsten Morgen erwachte und sie, wie immer, mit einem Kuß wecken wollte, war sie tot. Kalt und steif. Suchanow stieß einen Schrei aus, der nicht mehr menschlich klang, warf sich über sie, rief immer wieder ihren Namen, küßte ihr starres, zusammengefallenes Gesicht und bettelte, ihren schmalen Körper an sich drückend: »Das darfst du nicht, Wawra. Bleib bei mir. Komm zurück! Wawra, verzeih mir, verzeih mir … Du kannst mich doch nicht allein lassen …«
Der Arzt, den Suchanow später rief, stellte nüchtern fest: Tod durch Herzversagen. Das reichte … schließlich ist jeder Tod ein Herzversagen. Über die Hintergründe informierte er sich nicht … ihm genügte, daß die Tote im Kernkraftwerk Krasnojarsk-26 gearbeitet hatte. Die Diagnose ›Strahlentod‹ war verboten, es gab offiziell in Krasnojarsk keine Reaktortoten, also blieb nur noch Herzversagen übrig.
An diesem Tag wagte es Suchanow, seinen hohen Chef Sybin einen Mörder zu nennen. Am Telefon schrie er ihn an und verlor alle Angst vor dem ›Konzern‹.
»Du hast sie ermordet!« brüllte er ins Telefon. »Du hast sie umgebracht! Du hast mir befohlen, sie mit Plutonium zu vergiften! Du Mörder! Mörder!«
»Nikita Victorowitsch, beruhige dich.« Sybin hatte die Nachricht zutiefst erschreckt. Nicht, daß Wawra gestorben war, erschütterte ihn … vielmehr traf ihn die Erkenntnis, daß mit ihrem Tod die beste und sicherste Quelle versiegt war: Es gab aus Krasnojarsk kein Plutonium mehr. Nicht mehr das fast absolut reine, waffenfähige Plutonium, mit dem man auf dem Markt Phantasiepreise erzielen konnte. Was die anderen Lieferanten beschaffen konnten, vor allem Timski in Majak, war in seinem Reinheitsgrad um einige Prozente niedriger einzustufen. Das große Geschäft von Sybins Atommafia begann zu wanken. Zwar hatte er noch nicht die Ressourcen im Norden Rußlands angezapft, die U-Boot-Basis von Wladiwostok und Murmansk, eine am Japanischen Meer, die andere hoch im Norden an der Barentssee, wo die ausrangierten Atom-U-Boote abgewrackt wurden und fast unbewacht vor sich hindümpelten, in ihrem Innern immer noch mit Brennstäben bestückt und die Magazine voller Atomraketen.
Es war Sybin bekannt, daß gerade in Murmansk der Atomdiebstahl von höheren Offizieren organisiert wurde. Der Fall des Oberstleutnants Alexej Tichomirow war sogar
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