Tödlicher Staub
Mitternachtshure zu sein. Du bist zu schade für das Leben, das du jetzt führst. Auf dich wartet eine andere Welt.«
»Willst du mich zu deiner Dauergeliebten machen?« Sie lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. »Ich eigne mich nicht dafür, meine Freiheit mit einem einzigen Bett zu vertauschen.« Und plötzlich wurde sie sehr ernst und blickte Sybin mit einem harten Schimmer in den Augen an. »Ich hasse Männer!«
»Und nimmst sie doch mit in dein Hinterzimmer …«
»Das ist ein Beruf, sonst nichts. Ob ich auf dem Markt Kartoffeln verkaufe oder in einem Geschäft Strümpfe und Schuhe – oder meinen Körper, wo ist da ein Unterschied? Wer bezahlt, bekommt seine Ware. Was danach übrigbleibt, sind Ekel und Haß.«
»Du hast dich noch nie verliebt?«
»Nein!«
»Wie alt bist du? Ehrlich.«
»Neunzehn – aber meine Seele hat Falten wie eine Siebzigjährige.«
»Sie lassen sich ausbügeln.«
»Bist du das Bügeleisen? Da muß ich aber lachen, Igor Germanowitsch.«
Sybin schaute in das leere Lokal und hob dann die Hand. Er winkte damit, als wehre er eine Biene ab, und rief in herrischem Ton:
»Ich will allein sein. Alles raus … sofort raus … Alle!«
Die Wirkung seiner Worte war so, als habe er eine Peitsche geschwungen. Sofort verschwanden die Kellner durch die Tür zur Küche, der Geschäftsführer eilte hinaus in die Garderobe, und der kleine, grauhaarige Pianist in seinem schwarzen Anzug raffte seine Noten zusammen, machte zu Sybin hin eine Verbeugung und verschwand ebenfalls durch eine Seitentür. Natalja beobachtete das alles mit maßlosem Erstaunen.
»Verdammt, wer bist du?« fragte sie wieder. »Sie gehorchen deinem Befehl. Bist du ein neuer Zar?«
»Das möchte ich nie sein. Die Herrschenden stehen im kalten Licht … die wirklich Herrschenden regieren aus dem Hintergrund.«
»Und einer von ihnen bist du?«
»Wer ist Gorbatschow?«
»Hältst du mich für dumm? Der Präsident der UdSSR.«
»Und wer ist Jelzin?«
»Der Vorsitzende des Obersten Sowjets.« Natalja schob ihr Sektglas zur Seite. »Ist das die Unterhaltung, wegen der wir hier sitzen? Ein dämliches Quiz?«
»Ich will dir etwas von der Zukunft erzählen.« Sybin ergriff ihre Hand, küßte sie wieder und hielt sie danach fest zwischen seinen geschmückten Fingern. »Glasnost und Perestroika – Gorbatschow sei geküßt – haben Rußland verwandelt. Öffnung heißt Freiheit … aber was bedeutet die Freiheit für ein Volk, das siebenundsechzig Jahre lang von Partei, KGB, Funktionären, Kommissaren und verrückten Jahresplänen, die nie jemand einhielt, regiert wurde? Du stehst plötzlich vor einem weiten Land, und man sagt zu dir: Das gehört jetzt dir. Aber was willst du mit dem Land? Wo sind die Maschinen, die es bearbeiten sollen? Wo ist die Kraft, die eine neue Zeit emporträgt? Wo sitzt die Intelligenz, das neue Rußland zu führen? Die früheren Natschalniks hat man hinausgeworfen, die neuen irren noch in ihren Aufgabenbereichen umher, die Reformen erfolgen Schlag auf Schlag – in der Theorie bedeuten sie eine Veränderung der Gewohnheiten, aber in der Praxis eine lähmende Unsicherheit. Also wurde es notwendig, neue Strukturen zu schaffen.« Sybin trank einen Schluck Sekt. »Verstehst du?«
»Nein. Ich verstehe nur, daß es immer mehr Arbeitslose gibt, immer mehr Elend, eine Masse von enttäuschten und belogenen Menschen. Ich brauche nur meinen Vater anzusehen. Man hat ihm außer der Arbeit auch noch den Wodka genommen.«
»Das Alkoholverbot war ein großer Fehler Gorbatschows. Er hätte gewarnt sein müssen bei einem Blick auf Amerika. Die dortige Prohibition in den zwanziger Jahren wurde zum Fundament des Gangstertums. Die Mafia entstand, die Cosa Nostra, Al Capone, Bugsy Siegel, Lucky Luciano, all die großen Namen der Unterwelt regierten Städte wie New York, Chicago und Los Angeles und darüber hinaus ganz Amerika … ja, und nicht anders sieht es jetzt im neuen Rußland aus. Auf der Tribüne stehen die Volkshelden, die großen Reformer im Licht der Popularität … aber hinter ihnen, stark und mächtig, stehen unsichtbar die Männer, die an den Fäden ziehen.«
Natalja starrte Sybin mit so ungläubig geweiteten Augen an, daß dieser lachen mußte.
»Begreifst du jetzt, meine Schöne?« fragte er und küßte erneut ihre Hand.
»Du … du bist einer von ihnen?« fragte Natalja stockend. »Wieso? Was bist du?«
»Wir sind eine Organisation von Spezialisten. Es gibt bisher zwölf Gruppen, die nicht nur in
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