Tödlicher Steilhang
habe es bis fast in den Juni hinein geregnet, das habe wieder zu Verlusten geführt. Schließlich seien die Beeren klein geblieben, das aber wirke sich positiv auf die Qualität aus, wenn auch der Säurewertein wenig hoch ausfalle. Aber da ein Promille mit dem Weinstein ausfalle, ergebe sich kein Qualitätsverlust.
Georg erfuhr, dass zuvor zwölftausend Hektoliter pro Hektar geerntet worden waren, in diesem Jahr würden es nur achttausend werden, was den Traubenproduzenten Kopfschmerzen verursachte. Die qualitätsbewussten Winzer fuhren sowieso bedeutend weniger ein.
Weissgräber sollte sich aufs Traubenliefern beschränken, andere könnten daraus sicher mehr machen als er. Der Gedanke kam Georg, als er Beckers Weine probierte. Die bewegten sich in einer anderen Kategorie. Der Mülheimer Sonnenlay von ihm durfte sich wirklich »Wein« nennen, er war frisch und grasig, duftig und beschwingt, wonach er im Einzelnen duftete, konnte Georg nicht unterscheiden, etwas wie weiße Blüten geisterte ihm im Kopf herum. Irgendwann würde er auch das kapieren. Den Feinherben vom selben Weinberg empfand er als sehr gehaltvoll, als weich und mit Fülle in der Frucht. Auch Beckers Riesling vom Veldenzer Kirchberg war um Klassen besser als der in Brauneberg probierte. Am gewichtigsten empfand Georg den Wein von alten Reben, und bei diesem Wein gewann er zum ersten Mal eine eigene Vorstellung davon, was Schmelz bedeutete, wie er sich in einer Flüssigkeit anfühlte.
Der Süßwein, den er danach probierte, eine Beerenauslese, schmeckte tatsächlich nach Beeren, nach Rosinen, ein wenig kandierte Frucht, er hätte gern mehr davon getrunken, vielleicht dazu eine feine Pastete genossen, aber das Auto stand vor der Tür, noch dazu ein fremder Wagen, er fühlte sich sowieso an der Grenze dessen, was erlaubt oder dem Fahren zuträglich war.
Da warteten noch zwei Spätburgunder. Bei ihren Geschäftsessen früher in der Firma hatten sie nur von Pinot Noir gesprochen, es klang vornehmer. Von Beckers Roten ließ er sich jeweils einen Karton geben. Der vom letzten Jahr war leicht und hatte einen schönen Duft nach roten Früchten,sehr kirschig. Er amüsierte sich über sich selbst, da er bereits in üblichen Begriffen zu denken begann, gleichzeitig freute er sich, weil er meinte, beim einen oder anderen Wein mit seinen Empfindungen richtig zu liegen. Beim Vorjahreswein, der auch im Barrique gereift war und fülliger, kräftiger wirkte, meinte er Marzipan herauszuriechen, Sauerkirsche ebenfalls, und als er in der Beschreibung des Winzers die genannten Begriffe wiederfand, war er ein wenig stolz, packte die Kisten ein, die ihm jetzt niemand mehr streitig machte, und freute sich auf Susanne Berthold.
Kilian strahlte vor Freude, dass Georg bei ihnen erschien, und bettelte so lange, bis er erreicht hatte, dass er zum Abendessen blieb. Susanne Berthold hätte ihn nicht eingeladen, sie tat sich schwer mit seiner Anwesenheit, aber als sie sich dazu durchgerungen hatte, ein zusätzliches Gedeck auf den Tisch zu stellen, taute sie auf. Karsten, ihr älterer Sohn, beäugte Georg misstrauisch, er ignorierte ihn und wich seinem Blick aus, er ließ sich von ihm nicht einmal das Salz für sein Brot mit Radieschen geben. Deutlicher konnte er seine Abneigung nicht zeigen, das bemerkte auch die Mutter. Das Abendessen wurde entspannter, als es klingelte und Karsten von einem Schulfreund zum Fußballtraining abgeholt wurde.
»Wie langweilig«, sagte Kilian, als sein Bruder gegangen war. »Es ist doch immer dasselbe, da rennen ganz viele hinter dem Ball her, mir macht das keinen Spaß.«
»Er rennt nicht gern«, erklärte Susanne Berthold. »Andererseits – warum sollte sich jeder für Weinbau interessieren?«, fragte sie tadelnd ihren Sohn. Dann erzählte sie, dass Kilian den berühmten grünen Daumen habe. »Unseren Gemüsegarten beansprucht er bereits ganz für sich und versorgt uns mit allem, was auf dem Tisch steht.«
Da fanden sich Gurken, Radieschen, Rettiche, Feldsalat, Schnittlauch, Basilikum und Tomaten.
»Er hat mir versprochen, dass, wenn er eines Tages dasWeingut übernimmt, ich hier bis ans Ende meiner Tage bleiben darf. Ist das nicht reizend, mich nicht ins Altersheim zu stecken?«
Georg fühlte sich in dieser Gesellschaft sehr wohl, und je mehr er sich gehen ließ, desto mehr entstand ein Gefühl in ihm, als würde er Verrat begehen, Verrat an seinen Kindern, wenn er hier mit einer fremden Frau und deren Kindern das Abendbrot einnahm wie
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