Tödlicher Steilhang
repräsentiert.«
»Und Frau Sauter?«, fragte Georg, über sie war nicht gesprochen worden.
»Sie?« Die Pause danach war beredt, und der Blick, den sich die beiden Mitarbeiterinnen zuwarfen, sprach Bände, nur was darin stand, in diesen Bänden, entzog sich Georgs Kenntnis.
»Sie werden es erfahren, wenn Sie länger hier sind. Sie hat das Kapital, sie hat auch das Gut in Italien gekauft. Sie liebt Italien, es vergeht keine Woche, wenn sie da unten ist, in der sie nicht eine Kirche oder einen anderen Palazzo besichtigt. Bei uns ist ihr das Wetter zu schlecht. Dieses verregneteFrühjahr und die Kälte wären gesundheitlich Gift für sie. Rheuma.«
»Was ist das für eine Brücke, von der die Rede ist?«
»Es geht um den Hochmoselübergang«, meinte Frau Wackernagel seufzend. »Das leidige Thema spaltet die Gemeinden. Die Brücke wird unterhalb von Zeltingen zwischen Rachtig auf dieser Seite und Ürzig auf der anderen Seite gebaut, also vom Hunsrück in die Eifel führen, in hundertfünfzig Meter Höhe über unseren Köpfen, eine Autobahn oder Schnellstraße. Reden Sie mit Klaus oder mit Bischof, der Junge ist dagegen, der Alte dafür.«
»Er glaubt eben an den Fortschritt«, bemerkte Frau Ludwig bissig, »Bischof treten bei jeder neuen Maschine Tränen in die Augen.«
Als Georg zu seinem Apartment ging, hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Wagen, den er heute Morgen hatte wegfahren sehen. Die blonde Frau in Jeans und olivfarbener Jacke stieg aus, der jüngere Sohn ebenfalls, der ältere mit den Ralleystreifen an Hose und Jacke war nicht dabei. Er wird beim Sport geblieben sein, dachte Georg.
Da fiel ihm auf, dass er jetzt an derselben Stelle stand wie am Morgen. Es musste Mutter und Sohn so vorkommen, als hätte er sich seit Stunden nicht bewegt. Die Frau sah zu ihm her, dann schob sie den Jungen, der Georg anstarrte, zum grünen Tor und warf einen letzten, argwöhnischen Blick über die Schulter. Distanziert wandte sie sich ab, bestimmt von Misstrauen und Abwehr, so interpretierte Georg ihre Haltung. Aber der Junge hatte noch einmal gewunken, oder hatte er es sich eingebildet?
Auf dem Bett liegend, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, hatte Georg die Begegnung vor Augen. Offenheit und Interesse herrschten kaum noch unter den Menschen. Neugier wich der allgemeinen Skepsis oder erstickte in Facebook-Belanglosigkeiten, Begegnungen waren von Vorbehalten geprägt, die Angst vor Verletzungen machte Annäherungzunichte. Kaum jemand stellte Fragen wie beim Mittagessen, fast an der Grenze zur Indiskretion, ein jeder verkroch sich in sein Schneckenhaus und kümmerte sich nicht viel ums Wetter. Isolation war anscheinend kein reines Großstadtphänomen.
Das Powernapping von einer Viertelstunde brachte Georg wieder auf die Beine. Als er zum Keller ging, trat ihm Bischof vor dem Tor entgegen und vertröstete ihn um eine Stunde, der Filter sei nicht dicht, er müsse vorläufig auf Klaus verzichten. War der Kellermeister eifersüchtig, wollte er den Jungen für sich, oder sah er seine Autorität in Frage gestellt? Die hatte er sowieso nicht.
Georgs Plan, sich wieder zurückzuziehen, durchkreuzte Frau Wackernagel, vielmehr ihr Kaffee. Sie räumte die Papiere auf dem Schreibtisch des Chefs zusammen, forderte Georg auf, sich hinzusetzen, und schenkte ein. Dann legte sie ein Buch neben die Tasse.
»Die Franzosen meinen, dass große Weine nur an großen Flüssen wachsen, wie der Bordeaux an der Gironde oder der Sauternes an der Citron. Herr Sauter teilt diese Meinung, und die Mosel ist ein großer Fluss, über zweihundertvierzig Kilometer lang, allein in Deutschland, wenn es auch manchem nicht so vorkommt, so eng und gewunden, wie sie teilweise ist. Hier, lesen Sie, was über Hang- und Steillagen geschrieben steht, damit werden Sie sich beschäftigen, solange Sie bleiben. Wenn Sie Fragen haben, dann fragen Sie. Kommen Sie mir nicht damit, Sie könnten stören.« Mit einem freundlichen Kopfnicken wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.
Der Text beschäftigte sich mit der Bedeutung von Gewässern für den Weinbau. Die Wissenschaft war der Ansicht, dass die Oberflächen von Seen und Flüssen die Sonnenstrahlen reflektierten. Das Licht war eine der Voraussetzungen dafür, dass der Wein wuchs. Lichtenergie wurde im Rebstock in chemische Energie umgewandelt, diese benötigtedie Pflanze, um Kohlenstoffdioxid einzulagern, und in Verbindung mit Wasser entstand Zucker in den Beeren. Das war die Quintessenz dessen,
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