Tödlicher Steilhang
Schusslinienehmen. Sie war sich nicht sicher, ob er schweigen und sich auf seine Unwissenheit berufen würde.
»Aber Sie wissen davon, Frau …?«
»Wackernagel, seit fünf Jahren hier im Dienst. Selbstverständlich weiß ich davon. Ich halte erst mit unserem Anwalt Rücksprache, ob ich dazu etwas sagen darf. Sie können auch direkt mit ihm sprechen.« Sie schrieb Namen und Telefonnummer auf einen Zettel.
»Vorgestern war Ihr Chef noch hier?«
»Sicher, den ganzen Tag.«
»Und abends, gegen dreiundzwanzig Uhr?«
»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, da herrschte dichter Nebel, bei einem derart gruseligen Wetter geht kein Mensch freiwillig vor die Tür.«
»War seine Frau auch hier?« Kollege Köhler ergriff das Wort. »Ist sie im Hause? Können wir mit ihr sprechen?«
»Frau Sauter ist bereits vor zwei Wochen aufgebrochen, Herr Sauter fährt ihr sozusagen hinterher.«
»War die Reise geplant, langfristig?«
Dass Frau Wackernagel mit der Antwort zögerte, nur eine Sekunde, entging den Beamten nicht. Auch Georg bemerkte eine Veränderung in seiner Haltung. War er bis jetzt dem Gespräch gleichgültig gefolgt, so hoffte er nun sogar, dass die Vertriebsassistentin nichts von den Unregelmäßigkeiten auf dem italienischen Weingut durchschimmern ließ, das würde die Beamten alarmieren.
Plötzlich überkam ihn der Wunsch, sich einzumischen. Es war mehr als ein Wunsch, es war notwendig. Der leiseste Verdacht gegen seinen Gastgeber, der ihm so viel Vertrauen entgegenbrachte, ihm sein Haus öffnete, sein Gästeapartment zur Verfügung stellte und ihn in seine Geschäftsunterlagen Einblick nehmen ließ, war an den Haaren herbeigezogen. Musste er sich einmischen, um Sauter von jedem Verdacht reinzuwaschen?
4
Als die Polizisten das Büro verlassen hatten, blieb eine Frage von bedeutender Tragweite im Raum. Frau Wackernagel kommentierte den Besuch nicht, sie starrte verbissen auf ihren Bildschirm, und Georg fragte sich, ob ihr das Gleiche durch den Kopf ging wie ihm. Hatte Sauter etwas mit dem Tod des Winzers zu tun?
Dann blickte Georg wieder in sein Buch, betrachtete die Zeichnungen von Reben-Erziehungssystemen und verstand von allem nichts.
Gobelet-System und Cordon-Erziehung sagten Georg nichts, nur die Ganzbogenerziehung, bei der zwei Weinruten zu einem Herz gezogen werden, erinnerte ihn an die einzeln stehenden Weinstöcke, wie er sie oben am Steilhang auf einer schmalen Terrasse gesehen hatte. Bis auf halbe Höhe herrschte Drahtrahmenerziehung, wobei die Reben an den gespannten Drähten rankten. Was Wildwuchs und was gewollte Rebenerziehung war, konnte er wegen der Menge an Weinblättern nicht beurteilen. Wie bei allem brauchte man die Fähigkeit zu sehen, das wusste er von seiner Ausbildung, die richtige Deutung dessen, was sich vor den eigenen Augen abspielte, und das lernte man erst durchs genaue Hinschauen und durch die Kenntnis des Hintergrunds.
Der Augenschein täuschte häufig, irgendwann begriff man – oder auch nicht. Daran dachte er jetzt und fragte sich erneut, wie lange er hatte wegschauen können und das überhörthatte, was andere ihm verstohlen zu verstehen gegeben hatten, sowohl was die Politik der Firma betraf als auch in Bezug auf die eigenen Wege seiner Frau. Die war sie schon lange gegangen, nur er hatte es nicht wahrhaben wollen.
»Der Rechtsstreit mit Albers zieht sich über Jahre hin.« Frau Wackernagels Worte rissen Georg aus seiner Grübelei, die sowieso zu nichts führte. »Soweit ich es beurteilen kann, streiten die Familien bereits in der zweiten Generation. Immer gab es Ärger, obwohl der Chef selten darüber sprach. Es war ihm lästig. Dabei war ihm Albers nie unsympathisch, dazu war sein Wein zu gut, aber der Chef war auch nicht bereit, klein beizugeben. Beide fühlten sich im Recht. Es gibt Fälle, an denen verdienen nur die Rechtsanwälte. Ehescheidungen gehören wohl auch dazu, besonders wenn es um Geld geht.«
Das war ein Stichwort. Der Stuhl, auf dem Georg saß, wurde ihm zu heiß, er stand auf. »Ich habe gesehen, dass hier in der Straße weiter rechts eine Bäckerei ist. Ich hole uns einen Cappuccino oder einen Milchkaffee, was kann ich Ihnen mitbringen, vielleicht ein Stückchen Kuchen?«
»Ich mach uns gern hier einen Kaffee«, bot Frau Wackernagel an.
»Nein danke, nach dem Besuch der beiden Herren brauche ich frische Luft.«
»Fallen Sie nicht wieder auf die Nase.«
»Ich werde mich bemühen«, versprach er und dachte über den doppelten Sinn
Weitere Kostenlose Bücher