Tödlicher Steilhang
was hier stand.
Daher war die Ausrichtung des Weinbergs und der Rebzeilen in Richtung auf das Licht von Bedeutung, genau wie die Temperatur, die Zahl der Sonnenstunden und die Menge der dem Licht ausgesetzten Blätter. Flüsse waren ein wichtiger Wärmespeicher, denn Wasser kühlte langsamer ab als Luft. Wenn sich bei Nacht die Luft abkühlte und an den Berghängen herabsank, führten die Flüsse die Kaltluft in ihrer Fließrichtung mit.
Theoretisch war das einleuchtend, Georg erinnerte sich an den langweiligen Physik- und Chemieunterricht. Jetzt hingegen versuchte er, das Gelesene mit seinen Beobachtungen in Deckung zu bringen. Vielleicht war nicht der Stoff langweilig gewesen, sondern der Lehrer. Heute interessierten ihn die Zusammenhänge. Am Fuß des Steilhangs war es heiß gewesen, auf der Höhe kühler, dafür hatte die Sonne gebrannt. Jetzt las er, dass die Sonneneinstrahlung an der Hanglage wesentlich größer war als in der Flachlage, bedingt durch den Einfallswinkel, und dass die höchste Wärmeabgabe bei einem Einfallswinkel von neunzig Grad erfolgte.
Licht, Hitze und Anstrengung waren ihm bei seinem ersten Ausflug gut bekommen: Er hatte die Leere vergessen. Ich brauche genauso viel Licht und Wärme wie ein Rebstock, vielleicht wird mich das ausfüllen, dachte er und erinnerte sich an den freien Blick. Mein Tal ist eng, aber nicht das der Mosel, dachte er und nahm vor dem Fenster zur Straße eine Bewegung wahr.
Zwei Männer schauten herein, sie kamen mit den Gesichtern dicht an die Glasscheibe, einer schirmte mit den Händen das Licht ab, um im Halbdunkel etwas zu erkennen. Wieso Georg überzeugt war, dass es sich um Polizisten handelte, hätte er nicht sagen können. Der größere war in Georgs Alter, sein Haar war voll und dunkel, er trug eine Kombinationaus Jeans und Jackett mit einem hellen Hemd. Der jüngere war kleiner, ein heller Haarkranz umrahmte den Kopf, er hatte seine Tuchjacke oder den Anorak über die Schulter geworfen, das Oberhemd weit aufgeknöpft. Welche Art Hose er trug, ließ sich nicht erkennen, denn der Fensterrahmen schnitt die untere Hälfte der Männer ab.
Beide wirkten weder wie spießige Beamte, noch haftete ihnen staatliche Autorität an, aber Georg war sicher, dass es Polizisten waren. Steuerfahndung hätte gepasst, vielleicht Zoll, die Grenze zu Luxemburg und den dortigen Schwarzgeldkonten war nah, doch er hielt sie für Kriminalbeamte. Er hatte einen Blick dafür entwickelt, im vergangenen Jahr hatte er zu häufig mit ihnen zu tun gehabt. Das war mit ein Grund gewesen, die Firma zu verlassen, seit Jason Baxter (» please call me Jason «) sie als President übernommen und neuen Zielen zugeführt hatte, die Georg und auch der ehemalige Inhaber nie als erstrebenswert betrachtet hatten: Kontrolle, Macht und Einfluss. Da Baxter nicht vor Industriespionage zurückschreckte, er nannte es lapidar » service for our clients «, hatte Georg seinerseits Maßnahmen ergriffen – auf gleicher Ebene.
Die beiden Männer traten ein und blieben zögernd an der Tür stehen. Der jüngere sah Georg an.
»Sind wir richtig im Weingut von Stefan Sauter? Sind Sie Herr Sauter?«
Sein Begleiter machte einen Schritt vorwärts und sah sich um, als könne in der Tür zum Flur jemand mit einer Waffe auftauchen.
Raumsicherung! Mein Eindruck täuscht nicht, dachte Georg und blickte fragend Frau Wackernagel an, die mit weit aufgerissenen Augen hinter ihrem Schreibtisch hervorkam.
»Herr Sauter ist verreist!«
Der Ältere stellte sich als Oberkommissar Köhler und seinen Begleiter als »mein Kollege, Hauptkommissar Wenzel« vor. Beide zückten ihre Ausweise, die so schnell wieder in den Jackentaschen verschwanden, dass es auch Anglerausweisehätten sein können. Georg hätte die Dokumente gern genauer studiert, aber er hatte hier nichts zu sagen.
»Wir möchten den Inhaber des Weingutes sprechen.«
»Wie gesagt, Herr Sauter ist leider verreist«, wiederholte Frau Wackernagel. »Kann ich Ihnen helfen? Sicher geht es nicht um Wein …«
»Das ist richtig«, bestätigte der Hauptkommissar, der das Wort führte, während sein Kollege sich mit Röntgenaugen weiter umsah. »Wie kommen Sie darauf?«
»Weinkäufer zeigen nicht ihre Dienstausweise, und meistens haben sie ihre Frauen dabei!«
Ihre Schlagfertigkeit gefiel Georg immer mehr. Sogar der Hauptkommissar lächelte.
»Wann wird Herr Sauter zurückerwartet?«
»Sie werden sich gedulden müssen, er befindet sich auf seinem Weingut in Italien.
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