Tödlicher Steilhang
geworden war. »Sie wollten mir Angst machen, und das haben sie erreicht. Ich schaue mich um, ob jemand hinter mir ist, ich bin nervös, es ist ein unbekanntes Gefühl. Ich bin beileibe kein Feigling. Ich habe mich gewehrt, klar, nur leider hat man gegen drei Kerle, die halb so alt sind wie man selbst, keine Chance. ›Das Schwein wehrt sich!‹, sagte einer, ich erinnere mich genau. Er sagte es erstaunt und gleichzeitig erfreut, weil er danach härter zuschlagen konnte. Ich sollte richtig Dresche kriegen. Einige Tage Krankenhaus, eine Woche im Bett, bevor ich wieder arbeiten konnte.« Menges wandte den Kopf nach rechts und zeigte Georg die frisch verheilte Wunde auf dem Jochbein. »Die Prellungen sind abgeschwollen.«
»Ich bin dafür der Falsche«, sagte Georg ausweichend und vermied es, dem Winzer in die Augen zu sehen, er wich auch Klaus’ enttäuschtem Blick aus. Er schaute zu Boden, ärgerlich, dass sich sein schlechtes Gewissen meldete. »Ich habe leider genug um die Ohren, die neuen Aufgaben, täglich kommt in der Kellerei Neues auf mich zu …«
»Das nimmt Sie derart in Anspruch?«, fragte Menges kühl. »Sie waren Geschäftsführer und sind jetzt für ein Sabbatjahr als Praktikant auf einem Weingut? Das ist bemerkenswert. Sie sind hier eingetroffen, zwei Tage nachdem Peter Albers ertrunken ist. Sie waren am Fundort der Leiche, haben sich dort umgesehen – weshalb? Wenn Sie für Stefan Sauter ermitteln, dann können Sie sich auch um meine Sache kümmern, in einem Abwasch sozusagen.«
Georg bemühte sich, seinen Unmut nicht zu zeigen. »Ich ermittle für niemanden. Und dieser Herr Albers ist ertrunken. Und mit Stefan Sauter bin ich lediglich befreundet, verstehen Sie?!«
Es war für Georg eine Erleichterung, dass andere Besucher kamen und den Winzer mit ihren Fragen bedrängten. Aber Menges’ letzter Blick, ungläubig, vorwurfsvoll und bittendzugleich, traf sein Innerstes. Der Winzer hatte Angst, er suchte Hilfe.
Ich werde sentimental, sagte sich Georg, als er kurz darauf den Hof verließ. Im Tor blieb er stehen und sah sich nach der Winzerin vom grünen Tor um. Sie saß zwischen Einheimischen an einem Tisch unter einem großen weißen Sonnenschirm, und alle waren bester Laune. Nur er nicht. Mit niemandem hatte er noch was zu reden, es war gleichgültig, ob er hier gewesen war. Sogar die Touristen waren weniger fehl am Platze als er. Auf dem Weg zum Wagen hob er den Kopf und blickte zum Hang oberhalb von Ürzig, weil dort ein Hubschrauber im Tiefflug kreiste. Der Hang war steiler als der oberhalb von Zeltingen und fast bis auf den Kamm mit Reben bepflanzt. Es war ein in vielen Schattierungen grün wogendes Bild. Mittendrin formten überdimensionale weiße Lettern den Namen der Lage des Rieslings, den er eben im Glas gehabt hatte: Ürziger Würzgarten.
Der Hang folgte der Biegung genauso sanft wie der Fluss, oder folgte der Fluss der Biegung? Dort, wo er abknickte, wo der sogenannte Prallhang begann, traten rote, steil abfallende Felsen zutage. Wieso waren sie rot, wenn das Gestein der anderen Weinberge grau und blau war? An der schroffen Wand konnte nichts wachsen, er sah es jedenfalls von hier aus nicht, möglich, dass es schmale Terrassen gab mit zwei oder drei Rebstöcken nebeneinander.
Diese traumhafte Landschaft sollte durch eine kilometerlange Gerade in hundertfünfzig Meter Höhe und mehrere Senkrechte zum Nutzen des Fortschritts verunstaltet werden? Die Menschheit schreitet fort, dachte Georg, fort von der Natur, fort von der Heimat und von sich selbst – nur wohin? In eine Welt, reduziert auf siebzig Quadratzentimeter wie auf Miriams iPhone?
Früher hatte er sich nie Gedanken darüber gemacht, dass Gras schöner ist als Asphalt, dass Wald ihn mehr erfreut als Autobahnen. Hier wurde es ihm einmal mehr bewusst, als erdie Kräne und ein erstes Fundament auf dem Berg oberhalb von Erden sah. Von dort aus sollte die Brücke übers Tal geschoben werden und oberhalb des Würzgartens die andere Seite erreichen. Welche Freude würde es sein, bei dieser Aussicht mit hundertvierzig Stundenkilometer über das Tal zu rasen. Auch für Selbstmörder war es ein guter Platz.
Beim Anblick der Stellplätze für Caravans schüttelte es ihn. Würden mit Fertigstellung der Brücke noch mehr dieser weißen Kästen die Ufer verschandeln?
Vielleicht sollte ich mich doch darum kümmern, wer den Winzer verprügelt hat, sagte sich Georg. Bevor er in den Wagen stieg, sah er sich aufmerksam um, die Worte des
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