Tödlicher Steilhang
ergötzen – alle anderen waren ja so doof und so peinlich. Und Rose? Was würde sie sagen, wenn man sie nach ihrem Vater fragte? Würde sie ähnlich antworten wie der kleine Junge neulich, dass der Vater »weg« sei, und dann schleunigst verschwinden?
Er trat auf die Straße und ließ alle Vorsicht beiseite. Sollten sie ihn orten, ihn abhören, Miriam würde Rose sicher das Handy abnehmen, um zu sehen, ob er angerufen hatte, egal, er musste mit ihr sprechen.
Und sie war glücklich, dass er es tat, sie war mit dem Rad zu ihrer Freundin Kathrin gefahren und konnte ungestört telefonieren, und sie war unglücklich, als sie das Gespräch beendeten. Zumindest versprach er, sie bald zu besuchen, aber sie dürfe niemandem davon erzählen. Über ihre Mutter hatte sie lediglich gesagt, dass sie ihr verboten hätte, mit ihm zu sprechen.
Auf der Rückfahrt nach Zeltingen vernebelte ihm das schlechte Gewissen den Blick. Mit Glück entging er einem Auffahrunfall und hätte vor Schreck beinahe einen Radfahrer angefahren, als ihn in einer Rechtskurve ein Motorrad überholte. Der einzig tröstliche Gedanke war, dass seine Familie längst keine Familie mehr war – und er sah den drohenden Schwager von Frau Albers vor sich. War es tröstlich, dass bei anderen auch nicht alles zum Besten bestellt war?
Als er schon fast bei Sauters Kellerei angekommen war, erinnerte er sich an die Bitte des Winzers. Sie verursachte ihmzusätzliche Kopfschmerzen. Wenn er sich für ihn einsetzte, würde man ihn sofort in die Ecke der Fortschrittsverweigerer oder Ökospinner drängen, und er zöge den Zorn der Befürworter dieser Brücke auf sich sowie die Aufmerksamkeit der Polizei. Sie würden Nachforschungen nach ihm anstellen, Behörden hassten es, wenn man die Spinnweben von ihren Schreibtischen fegte. Sauter hätte sicher nichts gegen parallele Ermittlungen, zumal er die Initiative mit Geld unterstützte. Außerdem waren seine Steillagen am Zeltinger Schlossberg und der Sonnenuhr auch vom Brückenbau bedroht. Es war jedoch besser, nichts auf eigene Faust zu unternehmen. Morgen würde er ihn anrufen.
Und wenn ich mich nicht um Menges kümmere? Werden die Brückengegner mich als Vertreter der Gegenseite betrachten? Bischof wird es gefallen. Nur wie wird Klaus reagieren und darüber reden? Was werden Frau Wackernagel und Frau Ludwig dazu sagen? Ist es wichtig? Ist mir mein Ansehen hier im Ort wichtig? Wenn ich länger bleibe, dann sicherlich, und Georg dachte zum ersten Mal daran, dass man hier in diesem Tal vielleicht auf Dauer leben könne. Nur wovon?
Aus Angst vor dem verwaisten Apartment oder seiner inneren Leere flüchtete er zum Marktplatz. Irgendwie musste er den Rest des lauen Sommerabends rumkriegen. Als er sich an einen Tisch setzte, Bier bestellte und die lachenden und sich laut unterhaltenden Gäste an anderen Tischen sah, hielt er sich für den einsamsten Menschen. Nur er war allein, sonst niemand, es gab nur glückliche Paare. Als das Bier gebracht wurde, rang er sich ein Lächeln ab, trank danach viel zu viel und schleppte sich schließlich hinauf in sein neues Heim und sah eine Weile aus dem Fenster. Er nahm ein Buch über Rebsorten zur Hand, um sich abzulenken. Für die Schlaftabletten war es noch zu früh.
Die Riesling-Traube wurde generell als die vornehmste unter den weißen Trauben betrachtet. Ihr wurde die Fähigkeitzugeschrieben, sowohl ihre eigene Charakteristik im Wein zu zeigen wie auch das Terroir deutlich zu machen, auf dem sie gewachsen war. Aber Terroir war nicht nur der Boden und nicht nur die Hanglage, nicht nur die Dauer der Besonnung – Terroir war auch das Klima, das an diesem speziellen Weinberg herrschte. Der Abstand zwischen den Rebzeilen spielte eine Rolle, der Einfallswinkel des Lichts.
Das hieß, dass die Rieslinge vom Ürziger Würzgarten anders sein mussten als die vom Zeltinger Schlossberg und die der Sonnenuhr oder die des Erdener Treppchens. Um das zu beurteilen, müsste er die Weine nebeneinanderstellen und sie nebeneinander probieren. Er hatte bei Busch schon die Erfahrung gemacht, dass alle Weine unterschiedlich waren, wobei er die Unterschiede nicht beschreiben konnte. Der eine war säuerlicher, der andere kompakter, bei einem war die Süße stärker, oder die Aromen waren anders. Aber er konnte nichts über die Qualität sagen, nicht beurteilen, welche besser waren als andere. Nur welcher ihm selbst am besten gefallen hatte, wusste er: Das war der Riesling vom grauen Schiefer und der
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