Toedlicher Sumpf
eine Vermutung.« Und dann bedeutete er mir, ich könne ruhig meiner Wege gehen.
Der eine oder andere Professor war begeistert von meiner Direktheit, aber sie behandelten mich wie eine seltene Schmetterlingsspezies oder eine eben erst unter dem Mikroskop entdeckte Mikrobenart. Ich erinnere mich, wie ein Professor mich nach einer besonders hitzigen Seminardiskussion mit enthusiastischer Miene beiseitenahm. »Sie haben ein unverfälschtes oppositionelles Bewusstsein«, sagte er.
Hätte er ein Weckglas über mich stülpen können, ich glaube, er hätte es getan.
Bei Professor Guillory war es anders. Er ermutigte mich, auf meine zornige Weise auf Texte und Ereignisse der Geschichte zu reagieren. Er fragte, wo ich aufgewachsen sei, und kannte die Desire Projects. Er erzählte mir von Antonio Gramsci, dem italienischen Journalisten und linken Intellektuellen, der sich für die Arbeiterklasse eingesetzt hatte, obwohl er sich damitselbst in Gefahr brachte, und er drängte mich, mich zur Anwältin der Leute aus dem Neunten zu machen, Leuten wie meiner Mutter. Das war alles noch eine Nummer zu groß für mich – ich war gerade mal neunzehn –, und ich wollte ganz bestimmt nicht im Gefängnis sterben wie Gramsci, aber es vermittelte mir das Gefühl, wichtig zu sein, einen Daseinszweck zu haben. Mit der Zeit fasste ich Zutrauen zu Professor Guillory, und meine besten Arbeiten habe ich in seinen Seminaren abgeliefert, wo ich mich ernst genommen fühlte – wo ich zum ersten Mal während meiner Zeit an der Tulane das Gefühl hatte, überhaupt wahrgenommen zu werden.
Heute ist Professor Guillory Emeritus, was bedeutet, dass er nicht mehr unterrichtet und von der Uni-Verwaltung in ein fensterloses Büro von der Größe eines Besenschranks verpflanzt worden ist. Auf diese subtile Weise versuchen sie, Professoren im Ruhestand zum endgültigen Rückzug zu bewegen. Manche jüngere Kollegen tragen ahnungslos dazu bei, indem sie mit Emeriti besonders laut und deutlich sprechen und sich anbieten, ihnen zu erklären, wie ein Kopierer funktioniert.
Als ich Professor Guillory anrufe und frage, ob er bereit wäre, einen Entwurf meines Textes zu lesen und kritisch zu kommentieren, weiß er sofort, wer ich bin.
»Sehr gern!«, sagt er. »Erzählen Sie genauer.«
Das tue ich. Dass die Androhung des Jobverlusts über mir schwebt für den Fall, dass mein Stück nichts taugt, spare ich allerdings aus. »Der Abgabetermin ist ziemlich eng«, erkläre ich entschuldigend. »Was meinen Sie, wie lange Sie ungefähr brauchen würden?«
»Ist der Text fertig?«
Lieber Gott, nein. Er ist ein emotionales, zusammengeschludertes, nicht abgeschlossenes Machwerk. »Fast«, sage ich. »Morgen Vormittag könnte ich ihn Ihnen schicken.«
Er überlegt einen Moment. Dann sagt er: »Gut, meine liebe Nola, wenn ich ihn gleich morgen früh habe, können wir uns abends zum Essen treffen und darüber reden.«
»Ernsthaft?«
»Wie ein Herzinfarkt. Der mich bis dahin hoffentlich nicht ereilt.« Er ist siebzig. Ich nehme an, er denkt über solche Dinge nach.
»Vielen, vielen Dank! Das ist wunderbar.«
»Ganz meinerseits. Ich freue mich, wenn ich mich nützlich machen kann.« Da schwingt nicht die Spur Selbstmitleid mit. Er sagt einfach, wie es ist.
»Wäre Ihnen das ›Ignatius‹ zum Essen recht? Sie sind mein Gast«, sage ich.
»Gute Wahl. Und vielen Dank. Sehr angenehm, von einer jungen Frau zum Essen eingeladen zu werden. Wann treffen wir uns?«
Ich versuche mich zu erinnern, was ich über die Essgewohnheiten älterer Leute weiß.
»Um fünf?«, schlage ich vor. »Sechs?« Es entsteht eine Pause. »Ist das zu spät?«
»Ach, lassen Sie uns doch zu einer zivilisierten Zeit essen, querida . Um acht?«
»Perfekt.« Ich bedanke mich überschwänglich, und er wehrt meine Dankesbezeugungen weltmännisch ab. Schließlich legen wir auf.
Nachdem ich geduscht, mir eine Kanne Kaffee gemacht und meine Rohfassung noch einmal gelesen habe, schüchtert mich das Unterfangen schon nicht mehr ganz so sehr ein – was mich entlastet, denn in den fünf Tagen bis zur Abgabe am Montag muss ich außerdem noch ein Treffen mit Marisol, die Hochzeit und Kirchgang plus Essen mit meiner Mutter unterbringen. Ich habe bereits aus sämtlichen Interviews die besten Zitate herausgefiltert, ganz gute Beschreibungen von Mike Veltri, Javante Hopkins und George Anderson formuliert und die wichtigsten Daten aus den Opfer- und Täterstatistiken zusammengefasst. Das alles befindet sich
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