Toedlicher Sumpf
allerdings noch in unterschiedlichen Dateien und muss zu einem kohärenten Text verwobenwerden – einem makellosen Text, wenn ich meinen Job behalten will.
Aber zunächst treffe ich Vorkehrungen. Ich schneide drei Äpfel in Schnitze, gebe einen ordentlichen Klecks Erdnussbutter in die Mitte des Tellers, schenke mir ein großes Glas Milch ein und stelle alles neben meinen Laptop auf den Küchentisch. Außerdem beschließe ich, um die Mittagszeit eine richtige Pause zu machen – irgendwohin zu laufen, den Kopf klar zu kriegen, etwas Warmes zu essen –, damit der Entwurf ein bisschen abkühlen und ich ihn mir anschließend mit frischem, kritischem Blick wieder vornehmen kann. Dann kann ich bis in die Nacht hinein arbeiten – so lange, bis der Text steht. Was ich im Ressort Leben & Mehr zu tun habe, war bislang ein solcher Spaziergang, dass ich – anders als die meisten Reporter – das letzte Mal zu College-Zeiten eine ganze Nacht am Schreibtisch zugebracht habe. Aber ich will diese Geschichte, und ich will meinen Job.
Ich öffne das Röhrchen Multivitamintabletten, das seit Monaten unangetastet im Küchenschrank liegt. Gerade als ich eine mit einem Schluck Milch herunterspüle, kommt Uri in der Schlafanzughose aus seinem Zimmer getapst.
Er sieht die Milch und das offene Röhrchen auf dem Tresen. »Wer sind Sie?«, fragt er. »Und was haben Sie mit unserer Nola gemacht?«
»Na klar, mach dich nur lustig! Ich muss heute diese Story fertig bekommen und brauche jede Unterstützung, die ich kriegen kann.«
Er riskiert einen Blick auf die zahlreichen offenen, einander überlappenden Fenster auf dem Display meines Laptops. »Dürfte ich Beten vorschlagen?«
»Dürfte ich vorschlagen, dass du deinen Arsch hier rausbewegst, damit ich endlich arbeiten kann?«
»Ach, du bist es!«
Eine Weile danach höre ich ihn rufen: » Au revoir! Ich nehme Roux mit.« Die Tür fällt ins Schloss, und dann bin ich alleinmit einer verwirrenden Menge an Meinungen und Tatsachen und versuche, die Worte zu etwas zusammenzufügen, das Bailey einfach als genial gelten lassen muss.
Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort – oder so ähnlich, haben sie uns in der Kirche beigebracht. Aber Wörter haben Schwächen. Das traurige Wissen, dass unsere aus Wörtern zusammengefügten Schöpfungen trotz aller Bemühungen unfertig, unvollkommen bleiben, setzt uns Journalisten gewaltig unter Druck. Uns ist bewusst, dass die Leser das, was wir schreiben, falsch auffassen können.
So ist es immer gewesen, vor allem dann, wenn Autoren Neuland betreten haben. Der französische Eroberer Antoine-Simone Le Page du Pratz, im frühen achtzehnten Jahrhundert eine Art Auslandskorrespondent hier in Louisiana, berichtete über alles, was er sah: die Flora, die Fauna, die Sitten und Gebräuche der Natchez-Indianer. Er wusste, dass er damit Geschichte schrieb, deshalb gab er sich die größte Mühe, genau zu sein. Als aber sein europäischer Illustrator das Manuskript Jahre später las und anfing zu zeichnen, ging so einiges schief. Die Histoire de la Louisiane , die 1758 erschien, war gespickt mit fehlerhaften bildlichen Darstellungen.
Das Stinktier zum Beispiel – ein Geschöpf, das in Europa gänzlich unbekannt war – trägt auf seiner Zeichnung zwar Streifen, aber welche, die sich quer um seinen Körper winden wie bei einem Tiger. Sein Schwanz ist auf der Zeichnung platt und eher breit – nicht das buschig geschwungene C von Time Warners Pepé dem Stinktier. Und sein Gesicht – pobrecito – erinnert seltsam an A. A. Milnes Ferkel. – Ein Stinktier, das aus blinder Vorstellung entstanden ist.
Dabei hat La Page nichts absichtlich verzerrt. Er war Ingenieur und Architekt, ein Mann der Fakten und der Präzision. Seine Sünde, wie wir Katholiken sagen, war die der Auslassung. Ihm selbst stand jede Einzelheit so genau vor Augen – erwar vor Ort und konnte das echte, pelzige, übel riechende, schwarz-weiße Stinktier aus nächster Nähe studieren –, dass es ihm gar nicht in den Sinn kam, etwas so Offensichtliches zu erwähnen wie die Richtung, in die die Streifen verlaufen.
Manche Erfahrungen lassen sich nicht übersetzen. Manche Dinge müssen dem Glauben überlassen bleiben. Und das ist das Problem, denn welchem Geschichtenerzähler können wir trauen?
Während die Äpfel und der Kaffee nach und nach verschwinden und Sonnenstrahlen über den Boden immer näher kriechen, beginnt aus all den einzelnen Sätzen eine
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