Toedlicher Sumpf
Sprechzimmer frei von jeglicher religiösen Symbolik. Kein Kreuz, keine Engel, keine albernen Tafeln mit spirituellen Erbauungsversen in Goldlettern. Sie setzt sich in ihren Sessel und verweist mich auf ein kleines Sofa, auf dem sonst wahrscheinlich die Klienten Platz nehmen. Es ist weich und bequem. Ein einziges Bild hängt an der Wand über dem Schreibtisch, ein großes, gerahmtes Foto von Sandsteinformationen in Rot- und Goldtönen. Was soll das vermitteln? Beständigkeit? Oder einfach eine rhythmisch gegliederte Figurengruppe, auf die man zur Beruhigung schauen kann, während man vor einer Fremden sein Innerstes ausbreitet?
Ich hole mein Diktiergerät hervor und halte es hoch. Sie nickt, ich schalte es ein.
»Könnten Sie zunächst erklären, wie Sie bei Ihrer Arbeit vorgehen?«
Sie strafft die Schultern und lehnt sich zurück, wobei ihr Gesicht den Ausdruck professioneller Ruhe annimmt.
»Nun, ich setze ganz auf die Gesprächstherapie als Hauptmittel der Intervention. Allerdings ist es in vielen Fällen schwer, traumatisierte Klientinnen überhaupt zum Sprechen zu bewegen. Zum einen ist vielen vom Täter eingeschärft worden, dass sie niemandem etwas erzählen dürfen.« Sie lächelt kühl. »Viele der Frauen, die zu mir kommen, haben tatsächlich noch nie zuvor mit jemandem darüber gesprochen.«
»Und warum ist das so?«
»Da ist so viel Scham im Spiel«, sagt sie. »Viel Scham und viel Verschweigen. Vergewaltigung ist eines der weltweit am stärksten stigmatisierten Verbrechen. Viele Opfer fühlen sich beschmutzt und allein; sie sind nicht in der Lage, anderen zu vertrauen.« Sie erklärt, dass die Frauen, die den Täter kennen, noch viel seltener Anzeige erstatten als jene, die von einem Unbekannten angegriffen worden sind, und dass die meisten Vergewaltigungen – acht von zehn – von Bekannten oder Angehörigen begangen werden. Viele Vergewaltigungen werden selbst von den Opfern verheimlicht.
»Wie sieht es bei Kindern aus, die vergewaltigt oder belästigt worden sind?«
»Auch da wird viel geschwiegen. Das Vertrauen dieser Menschen in andere ist ja schon früh zerstört worden. Wer so früh eine solche Erfahrung gemacht hat, bleibt immer wachsam und hat große Schwierigkeiten, jemals wieder einem anderen zu trauen. Die Opfer verbergen ihr wahres Ich und bleiben dadurch immer allein; isoliert.« Sie schüttelt den Kopf und seufzt. »Dieses Verstecken und Verbergen wird zur festen Gewohnheit, zur zweiten Natur. Dabei nützt das Schweigen nur den Missbrauchern.« In ihren Augen blitzt es. »Sogesehen ist es eine soziale und politische Tat, das Schweigen zu brechen. Und außerdem ist es ein Weg zur psychischen Heilung.«
»Aber heutzutage wird doch sogar im Fernsehen über diese Dinge berichtet. Warum gibt es dann bei den Opfern immer noch die Scheu, darüber zu sprechen?«
»Nehmen Sie ein achtjähriges Kind, das vergewaltigt und eingeschüchtert worden ist – da spielt es überhaupt keine Rolle, was die Leute bei Oprah reden. Neun von zehn dieser Kinder sagen keinen Pieps. Sie haben Angst, und sie schämen sich. Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum Reden so schwierig ist: Geist und Körper speichern große Teile des Traumas so ab, dass die Sprache da gar nicht herankommt. Im Gehirn zum Beispiel als eine Folge immer wieder aufflackernder Bilder oder körperlich als ein anhaltendes Gefühl der Anspannung – in den Muskeln, im Bauch oder in der Genitalregion. Auch Kombinationen aus diesen und anderen Symptomen kommen vor.« Sie fährt sich über das perfekt geschnittene Haar und dreht den kleinen silbernen Ohrstecker hin und her. »Mein Ziel ist es, das Trauma sprachlich zu fassen. Die Klientinnen so weit zu bringen, dass sie in der Lage sind, über das Geschehene zu sprechen.«
»Und das tun sie dann hier, mit Ihnen?«
»Genau. Manche Opfer leiden, wenn keine Intervention stattfindet, jahrelang an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Aber wir haben wieder und wieder erlebt – und jetzt rede ich von weltweiten Erscheinungen, von Naturkatastrophen und Kriegen –, dass bei traumatisierten Menschen in dem Moment, in dem sie in der Lage sind, zusammenhängend von dem Erlebten zu erzählen, ein geistig-seelischer Heilungsprozess einsetzt. ›Das und das ist passiert, und dann geschah das und das ...‹ Ursache und Wirkung. Sobald eine Frau das kann, lassen ihre Symptome nach. Sobald sie ihre Geschichte erzählen kann, ist sie auf dem Weg zurück ins Leben.«
»Das Erzählen ist also
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