Toedlicher Sumpf
Sie den Text gut finden!«
»Keine Ursache!« Er winkt kurz, und wie aus dem Nichts erscheint unser Kellner. »Bitte noch zwei Gläser von demPinot«, sagt Professor Guillory. »Wir haben etwas zu feiern.« Dann schaut er mich wieder an. »Der Text ist weit mehr als gut. Und um ihn so hinzukriegen, haben Sie mich nicht gebraucht. Im Übrigen, Nola, habe ich meine Meinung über die Picayune gründlich revidiert.«
Um ein Haar verschlucke ich mich am Wein. »Wie das?«
»Nun ja, im Seminar bin ich immer hart mit den Leuten ins Gericht gegangen. Damals empfand ich sie tatsächlich als eine Art journalistischen Witz. Aber mit der Katrina-Berichterstattung sind sie über sich hinausgewachsen. Die Krisensituation hat sie herausgefordert. Und das Niveau hat sich seither gehalten. Ganz im Ernst, inzwischen ist das eine Zeitung, für die zu arbeiten jedem Reporter gut zu Gesicht stehen würde.«
»Meinen Sie wirklich?«
»Aber ja. Sie sollten sich darüber freuen, dass dieses Stück von Ihnen da erscheint.«
»Danke, Professor! Ich hoffe nur, der Herausgeber nimmt es mir ab.«
»Wie könnte er nicht?« Der Wein kommt, und er trinkt einen Schluck. »Allerdings«, sagt er langsam. »Eine Sache wäre da noch.« Mein innerer Tumult kommt zum Stillstand. »Es fehlt etwas.« Nachdenklich kneift er die Augen zusammen. »Ja, das wird mir gerade erst bewusst.«
»Was?«
»Es handelt sich doch um eine Reportage, richtig? Eine Reportage bietet Ihnen die Gelegenheit, das Thema umfassender zu behandeln, gründlicher und tiefergehend, als es in kleineren Formaten möglich ist. Richtig?«
»Tut mein Text das nicht?«
»Doch, er tut es ganz wunderbar – so weit jedenfalls. Aber bedenken Sie, die Geschichte wird von den unterschiedlichsten Leuten gelesen werden. Und wenn Ihre Angaben zur Kriminalstatistik stimmen, ist es sehr wahrscheinlich, dass einige Ihrer Leser selbst Opfer sexueller Gewalttaten waren.«
»Und das heißt?«
»Sie befassen sich hier mit Verbrechen und Strafe, Nola. Von Hoffnung keine Spur. Besonders wenn man betrachtet, was Sie über die Opfer schreiben, ihre Beeinträchtigungen, die Probleme, die sie infolge der Tat auch als Erwachsene noch haben – dann gibt es für diese Leute keine Perspektive, keinen Ausweg. Jedenfalls in Ihrer Story nicht.«
»Ich zeige nur die Tatsachen.«
»Ja, und das machen Sie sehr gut – so weit. Aber vielleicht gibt es noch andere Tatsachen? Wir stellen bestimmte Fragen, finden darauf die Antworten – und bauen daraus unsere Geschichten. Haben Sie auch Beratungsstellen befragt, Fachleute, Therapeuten, die mit Opfern arbeiten?«
Ich brauche einen Moment, um zu antworten. »Nein.«
»Sehen Sie? Das werden Sie zum Abschluss noch tun, Nola.« Er nickt entschieden. »Da bin ich ganz sicher.« Und nun drückt er meine Hand, die auf dem Tisch liegt. »Was Ihrer Geschichte noch fehlt, ist eine Prise Hoffnung.«
Als ich wieder zu Hause bin, suche ich im Telefonbuch von New Orleans nach Beratungsstellen für Opfer von Sexualstraftaten und hinterlasse auf mehr als zehn Anrufbeantwortern die Anfrage, ob ich morgen zu einem Interview vorbeikommen kann – das ich irgendwie noch zwischen den obligatorischen Maniküretermin und die Probe mit anschließendem Abendessen quetschen muss. Am Samstag habe ich dann Marisol und die Hochzeit. Am Sonntag Messe und Essen bei meiner Mutter.
Die Deadline – Montagmorgen – rückt bedrohlich näher. Mir bleibt kaum noch Zeit.
20
Gleich nach dem Aufstehen am Freitag höre ich meine Mailbox ab. Nur drei Therapeuten haben zurückgerufen, und zwei davon hören sich an, als seien sie mehr an der kostenlosen PR interessiert als am Thema. Dr. Shiduri Collins dagegen klingt ernsthaft und sachlich. Ich melde mich bei ihr, und sie erklärt sich bereit, mich während ihrer Mittagspause zu empfangen.
Die Praxis befindet sich in einer ruhigen Wohnstraße, in einer presbyterianischen Kirche. »Keine religiöse Anbindung«, sagt sie schon an der Tür. »Sie sind mir einfach mit der Miete sehr entgegengekommen.« Sie lächelt und begrüßt mich mit einem festen Händedruck. »Das möchte ich nur von vornherein klarstellen.«
Shiduri Collins, um die fünfzig, vielleicht auch etwas darüber, ist eine stattliche Frau: mindestens eins achtzig groß, breitschultrig und muskulös. Ihr silbergraues Haar ist sehr kurz geschnitten. Sie sieht gut aus – glatte Haut, lange Wimpern, dunkler Lippenstift, enges graues Kostüm.
Wie sie es angekündigt hat, ist ihr
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