Toedlicher Sumpf
wir dann.«
Skeptisch und fasziniert zugleich beuge ich mich vor. »Wie in Law and Order , wenn sie einem Kind eine Puppe in die Hand drücken und sagen: ›Zeig uns, wo Papa dich berührt hat‹?«
»Nein, nein, nichts so Direktes. Was die Leute hier zusammenstellen, hat in der Regel eher symbolischen Charakter, ist abstrakt, wie Traumbilder vielleicht. Ich interpretiere diese Bilder dann anhand dessen, was ich aus unseren Vorgesprächen weiß. Ich spreche aus, was ich sehe. Manche reagieren sofort und sagen: ›Ja, das stimmt!‹, andere brechen in Tränen aus. Wieder andere korrigieren mich und sagen: ›Nein, das bedeutet das und das.‹ Ich liege bestimmt nicht jedes Mal richtig.«
Sie lacht. Es ist ein unverstelltes Lachen, und ich merke, dass ich anfange, sie zu mögen.
»So oder so«, sagt sie schließlich, »haben die Klienten damit für Dinge, über die sie vorher nicht reden konnten, eine Sprache gefunden.« Unter leisem Ächzen beugt sie sich vor und greift zwei der Action-Figuren aus dem Sand. »Zum Beispiel haben wir hier einen Jesus«, sagt sie, »und eine Prinzessin Leia.« Sie hält die beiden hoch. »Was Frauen mit dem Jesus machen, steht oft symbolisch für ihr Verhältnis zur Religion beziehungsweise zum Glauben oder zur Spiritualität allgemein. Manche nehmen ihn ganz aus dem Sand heraus, andere schieben einen kleinen Hügel zusammen und postieren ihn darauf. Manche stellen ihn auch auf den Kopf.«
»Ich dachte, es gibt bei Ihnen keine religiöse Anbindung?«
»Ich selbst bin nicht gebunden, aber wir leben nun mal in einer ausgeprägten jüdisch-christlichen Kultur. Dem kann man nicht ausweichen, und wenn man es noch so sehr möchte. Von den Frauen, die hierherkommen, sind achtzig bis neunzig Prozent auf die eine oder andere Weise mit Religion konfrontiert worden. Selbst wenn sie keine Christinnen sind, haben sie so viel von der US-amerikanischen Kultur in sich aufgenommen, dass der Jesus bei ihnen für Religion steht. Das ist also durchaus relevant.«
»Und Prinzessin Leia?«
»Na ja, sie ist eine Heldin, oder? Sie ist stark. Aber sie braucht Hilfe. Die Star-Wars -Szene, in der R2-D2 ihre Nachricht abspielt, hat Kultstatus, oder?«
»›Helft mir, Obi-Wan Kenobi‹«, zitiere ich, »›Ihr seid meine letzte Hoffnung.‹«
Ihre dunklen Augen glänzen warm. »Genau. Die Szene ist in unserem nationalen Bilder-Fundus gespeichert – eigentlich im globalen Bilder-Fundus. Ich habe noch mit keiner Klientin gearbeitet, die diesen Film nicht gesehen hatte. Reich oder arm, schwarz oder weiß. Oder braun«, fügt sie höflich hinzu. »Wie eine Klientin Prinzessin Leia positioniert, kann mir also zeigen, wie sie sich selbst sieht, welche Rolle sie sich in ihrem gegenwärtigen Leben zuschreibt. Stellt sie Prinzessin Leia ins Zentrum, als eine Figur, die eigenverantwortlich fest auf ihren eigenen Füßen steht? Steht die Prinzessin eher abseits, isoliert von den anderen Figuren? Liegt sie auf dem Rücken, während Tiere über ihr kauern, oder wird sie ganz aus dem Gefäß entfernt? Oder ...« Shiduri Collins verstummt.
»Ja?«
Leise fährt sie fort: »Oder liegt sie unter dem Sand begraben?« Traurig blickt sie ins Leere. »Alle kann man nicht retten.«
»Ihre Klientinnen liegen Ihnen sehr am Herzen.«
»Wirklich, wenn ich sie alle mit nach Hause nehmen undvierundzwanzig Stunden am Tag mit ihnen arbeiten könnte, ich würde es tun. Diese Frauen sind in gewisser Weise aus ihrem Körper geflüchtet. Und das interessiert so gut wie keinen.« Sie seufzt wieder und wippt in kurzen, ungeduldigen Bewegungen in ihrem Drehstuhl vor und zurück.
»Das hört sich jetzt ziemlich hoffnungslos an.«
Sie hält inne und öffnet die Hände im Schoß. »Nein, überhaupt nicht! Überhaupt nicht«, erwidert sie. »Ich bin nicht der Typ, der sich mit aussichtslosen Sachen herumschlägt. Wenn es tatsächlich hoffnungslos wäre, hätte ich mich aus dieser Arbeit längst zurückgezogen. Nein, ich mache das jetzt seit zweiundzwanzig Jahren und habe bei bestimmt tausend – wenn nicht mehr – Klienten erlebt, wie es ihnen nach und nach besser ging. Aufgelöste, verzweifelte Frauen, die heute glückliche, starke Persönlichkeiten sind, eine gesunde Sexualität leben und ohne Gewalt, Drogen und Ängste durchs Leben gehen. Sie verfügen über Selbstachtung und Vertrauen zu anderen, sie haben eine Stimme. Sie haben ihr Leben zurück.«
Unsere Zeit ist um. Ich bedanke mich. »Das war außerordentlich hilfreich, Dr.
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