Toedlicher Sumpf
herunter, dann beugt er die Hinterpfoten und rollt sich gelangweilt auf die Seite. Zottelige Kamele lagern auf dem staubigen Erdboden und rülpsen vor sich hin. Ein gescheckter Sumpfhirsch wandert vorbei. Marisol spart sich die Mühe, die Tafeln mit den Namen der Tiere und den Landkarten zu studieren, die zeigen, wo sie zu Hause sind, aber sie macht unzählige Fotos und hält mir wiederholt die Kamera unter die Nase, um mir ein besonders gelungenes zu zeigen. Vor den Asiatischen Löwen bleiben wir stehen.
»Der sieht böse aus«, sagt ein kleiner Junge. Zwei Löwinnen liegen lang ausgestreckt auf der warmen, grasbewachsenen Erde. »Der kann dir was tun.«
»Wenn ich in den Streichelzoo geh«, sagt sein Freund, »werd ich einen Löwen streicheln.«
»Machst du gar nicht.«
»Mach ich wohl.«
Marisol erwidert mein Lächeln. Ich werde bestimmt nicht diejenige sein, die den beiden mitteilt, dass es im Streichelzoo nur Schildkröten, Hühner, Ziegen und einen alten Esel gibt.
Der Malaienbär ist nirgends zu sehen, und der Asiatische Kurzkrallenotter liegt schlaff da wie ein brauner Haufen. Marisol schaut ihn nur einmal kurz an, dann geht sie weiter. Ich folge ihr.
Vor den Störchen halten wir beide fasziniert inne. Eins der Tiere beobachtet uns misstrauisch, den langen Hals zwischen die Schultern gezogen, den Rücken gekrümmt; sobald eine von uns sich bewegt, legt sich die rote Stirn in kleine Falten. In dem weitläufigen Gehege verstreut stehen künstliche kambodschanische Tempelruinen, und der süße Duft des Jasmins, der sich über die Felswände rankt, weht bis zu uns herüber.
»Der sieht aus wie Mr. Elson«, sagt Marisol.
»Wer ist das?«
»Ein Lehrer von mir.«
»Ach. Wie kommt’s?« Ich rechne damit, dass sie eine teenagertypische Grobheit über Falten von sich gibt. Oder über den Buckel.
»Klug«, sagt sie und legt den Kopf schräg. Plötzlich flattert ein anderer Storch mit ungelenken, urzeitlichen Bewegungen auf und schwebt davon, wobei die Beine reglos herunterhängen. »Er passt auf.«
Mir klappt die Kinnlade herunter. Ich entdecke ganz neue Seiten an Marisol. Sie beobachtet aufmerksam und ist wohlwollend dabei.
Der Nachmittag geht schnell vorüber. Wir durchstreifen den ganzen Zoo, essen ein Eis und probieren den Safari-Simulator aus, in dem sich mir bei jedem Schunkeln der Magen umdreht. Als Marisol Karussell fährt, mache ich die Fotos. Es ist ein wunderschönes altmodisches Karussell mit Dampforgelmusik, und sie hat sich ein schwarzes Pferd mit kunstvoll geschnitzter Mähne ausgesucht, das gerade zum Sprung ansetzt – genau so eins hätte ich mir in ihrem Alter auch ausgesucht. Trotzdem fühle ich mich irgendwie nicht wohl. Vielleicht liegt es an der Musik, an diesem beschwingten, pseudofröhlichen Sound von Kindheit, Zirkus und French Quarter. Er jagt mir unangenehme kleine Schauer über den Rücken.
Als die Fahrt endet, steigt Marisol von ihrem Pferd und sieht mich stirnrunzelnd an. »Was ist?«
»Nichts.« Ich setze ein Lächeln auf. »Gar nichts.« Und gebe ihr die Kamera zurück. » Mira . Erinnerst du dich an die Typen, mit denen du geredet hast, als ich dich letzte Woche abgeholt habe?«
Sie zuckt die schmalen Schultern.
»Diese älteren Jungen. Weißt du noch?«
»Und? Wir haben nur gequatscht.«
»Sicher, ja. Aber ... hat deine Mutter eigentlich mal mit dir darüber gesprochen, was geht und was nicht?« Wie soll ich – nicht gerade eine Meisterin des Feingefühls – mit einem Mädchen, das ich kaum kenne, ein Gespräch über das Geh-nie-mit-Fremden-mit-Thema führen? Mit einem Mädchen, das sich viel weltläufiger gibt, als es seinem Alter entsprechen würde, das Waffen toll findet und, ohne mit der Wimper zu zucken, Fellatio-Songtexte mitsingt? »Ich meine, hat sie mal mit dir darüber gesprochen, was Männer zu dir sagen dürfen und was nicht? Oder darüber, in welcher Weise sie dich berühren dürfen?«
Mit dem Ausdruck puren Pubertätsentsetzens wendet sie sich ab, so als hätte ich ein Gespräch darüber angefangen, wo die Babys herkommen. »Ehrlich«, sagt sie. »Das sind doch nur ein paar Typen.«
»Hör zu, lo siento .« Ich seufze. »Aber das ist ein ernstes Thema. Hast du die Fernsehnachrichten über die verschwundene Frau gesehen?«
»Die entführt worden ist?«
»Ja.«
»Klar.« Wieder einmal zuckt sie die Achseln. »Hat doch jeder gesehen.«
»Sie ist zur Toilette gegangen. Fünf Minuten. Und das Nächste, was man von ihr hört, ist, dass sie tot im
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